neue Gesellschaft
für bildende Kunst

Die 11 Thesen auf dem Weg zu einem Manifest der Urbanen Praxis ergänzen das vielstimmige Glossar Urbane Praxis und bilden pointiert den vorläufigen Abschluss der Werkstatt-Konferenzen der Initiative Urbane Praxis, welche Standorte und Akteur_innen der Urbanen Praxis vernetzte. Das zweisprachige Glossar und die Thesen finden schon jetzt weit über Berlin hinaus Anknüpfungspunkte und Fortsetzungen.

Redaktionsteam SITUATION BERLIN/nGbK: Jochen Becker, Anna Schäffler, Simon Sheikh

 

 

These 1: Urbanität ist ein globaler Zustand; urbane Strukturen und Infrastrukturen sind nahezu überall. Da wir vollständig von urbanen Formen umgeben sind, brauchen wir eine Urbane Praxis, die den urbanen Raum zurückerobert und in einen gemeinsamen Raum umwandelt. Berlin (als Beispiel) ist seit Langem geprägt von eigensinnig initiierten Bauten, von selbstorganisierten Räumen und einer reichen sozialen Kultur. Das Recht auf Stadt wird von Vielen mit Mitteln der Künste, Gestaltung, Planung und Aktion – kurz Urbane Praxis – erstritten und gemacht.

These 2: Die Urbane Praxis ist ein Handlungsraum des Rechts auf Stadt. Wer macht Stadt und mit welchen Kulturen und Praktiken? Wie formuliert sich ein Recht auf Stadt ohne Rechthaberei? Urbane Praxis adressiert globale Herausforderungen auf lokaler Ebene. So vernetzt, schafft die Urbane Praxis Räume, in denen die Forderung auf das Recht auf Stadt und das Recht auf Zentralität verhandelt wird. Verortet in den lokalen Strukturen, lässt Urbane Praxis Ansprüche im öffentlichen Raum unmittelbar erlebbar werden.

These 3: Urbane Praxis ist selbstorganisiert, selbst initiiert und (handlungs-)autonom. Urbane Praxis ist eine emanzipatorische und selbstermächtigende kollektive Praxis. Urbane Praxis basiert auf urbanen Strategien, die sich einer neoliberalen Logik verweigern und autonome Handlungsräume sowie Handlungsfähigkeiten herstellen. Urbane Praxis diskutiert auf lokaler Ebene planetare Zusammenhänge und ermöglicht demokratische Prozesse sowie Vergesellschaftungen (commonings).

These 4: Die Urbane Praxis fordert Urbanität für eine demokratische Nutzung zurück und wehrt sich gegen Gentrifizierung, Privatisierung und die weitere Ausbreitung der Bauträgermoderne. Sie ist nicht gewinnorientiert und wird daher aus Konflikten und Kämpfen geboren und ist im Wesentlichen nicht konsensorientiert. In der Urbanen Praxis wird die Stadt als ein Raum des Widerstreits anerkannt und verhandelt. Räume des Gemeinsamen werden geschaffen, ohne dabei den Anspruch von Konflikt, Vermittlung und Übersetzung zu vernachlässigen. Voraussetzung dafür ist ein barrierearmer, postdisziplinärer, selbstbestimmter und multilingualer Raum: Zusammen in Widersprüchen.

These 5: Urban Praxis ist eine öffentliche Kunstform, nicht nur Kunst an der frischen Luft. Sie ist postdisziplinär und hält sich nicht an die historischen Unterscheidungen zwischen Kunst und Architektur, Ästhetik und Sozialem. Sie konfiguriert das Urbane als Praxis neu und stellt sich in Bezug auf Disziplinen wie Stadtplanung, Architektur, öffentliche Kunst, Kuratieren und Skulptur, Sozialarbeit und Gemeinschaftsprojekte neu auf. Sie arbeitet am Kulturwandel und umfasst physischen Raum, Umwelt, Prozesse, Artefakte, neue Formen von Kommunikation, Interaktion sowie Politiken.

These 6: Urbane Praxis ist kein neues und auch kein Berliner Phänomen. Sie baut auf historische Vorläufer und langjährige Erfahrungen von Strategien der Raumaneignung und Diskurse. Urbane Praxis ist eine experimentelle, situative und ortsspezifische Praxis der Raumaneignung. Sie arbeitet mit Methoden der Versammlung, der Wunschproduktion und des In-Frage-Stellens. Im Feld der Urbanen Praxis verbinden sich Theorie und Praxis. Urbane Praxis schafft Wissen durch Handeln und Machen. Das erfordert auch neue Erhaltungsformen des Archivierens, Tradierens und Verfügbarmachens dieses Handlungswissens.

These 7: Das Feld der Urbanen Praxis verfügt über eine Vielzahl erfahrener Akteur:innen, um im Zuge der krisenhaften Entwicklung des Urbanen notwendige Veränderungsprozesse voranzutreiben. Der Druck auf die Stadtgesellschaft (mietenpolitische Bewegungen, Frage der Peripherien, Klimakrise), den sozialen Zusammenhalt (Zunahme sozialer und rassistischer Spaltungen, fehlendes Wahlrecht für ein großen Teil der Bevölkerung, simple Identitätspolitiken) und die ästhetischen Praxen (unzureichende Förderpolitiken, wachsende Regulationsdichte durch Verwaltungs- statt Produktionsperspektive, Verfestigungen des Kunstmarkts, neuer Provinzialismus) wächst.

These 8: Die Urbane Praxis wird von Vielen erstritten und gemacht. Als zeitgenössische, postdisziplinäre Praxis erfordert die Urbane Praxis neue Organisationsstrukturen und Regierungsformen, die nicht Macht über ihre Subjekte ausüben, sondern ihre Subjekte und Akteure befähigen können. Sie braucht eine institutionelle Form, die bessere Bedingungen schafft, um Autonomie zu produzieren, und die neben der traditionellen Staatsbürgerschaft auch Begriffe wie Mitglieds- und Nutzer:innenschaft berücksichtigt. Urbane Praxis braucht eine Institutionalisierung, die anti-institutionell bleiben kann.

These 9: Urbane Praxen brauchen neue Formen der Governance, d.h. der Unterstützung, die sie von Regierungen und Kommunen erhalten können. Über die bisherige punktuelle Projektförderung hinaus verlangt die Urbane Praxis nach verbindlichen Verstetigungen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Stadtverwaltungen und ihre gewählten Vertreter die Maßnahmen unterstützen, die ihre Einwohner:innen vertreten: In Form von öffentlichen Programmen, die nicht nur Kunst am Bau sind, sondern solche Anliegen in zeitgemäßen sozialen und ästhetischen Formen aktualisieren, wie sie von der Urbanen Praxis durchgeführt werden.

These 10: Wie also lassen sich neue Formen des Zusammenlebens in der Stadt umsetzen, die auf die verborgenen Geschichten und Fragmente der Vergangenheit zurückgreifen, aktuelle Probleme artikulieren und sich an der Zukunft orientieren? Wie würden Ansätze dafür in strukturelle und auch institutionelle Bahnen geleitet und gefestigt werden, ohne dabei zu versteinern? So könnten transnationale Städte-Netzwerke des ”Kreise Ziehens”, eine ”Union der Urbanen Praxis”, ein „Haus der Urbanen Kulturen“ oder eine ”IBA der UP” Formen künftiger Zusammenarbeit bieten.

These 11: Wir rufen Urbanist:innen auf der ganzen Welt, in den globalen Städten, Vororten, ländlichen Gebieten und Industriezonen, dazu auf, ihre Bemühungen durch die Gründung einer internationalen Bewegung und eines internationalen Netzwerks zu verstärken, um gleiche Rechte auf die Stadt, auf bessere Lebens- und Bauweisen einzufordern. Durch die Gegenüberstellung des Orts- und des Kampfspezifischen können Verkettungen der Gleichwertigkeit hergestellt werden. Aus der Urbanen Praxis werden wir eine übergreifende urbane Strategie entwickeln.

 


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Thesenposter Zusammen in Widersprüchen