Jan Wenzel: Bücher können warten

5.4.19 Type: Essay Languages: Deutsch

„Es ist nur eben eine Illusion, die wir hier auf der Erde haben, dass ein Augenblick dem anderen folgt wie Perlen auf einer Schnur und dass, wenn ein Augenblick vorbei ist, er für immer vorbei ist“, beschreibt Kurt Vonnegut in seinem antirealistischen, Science-Fiction und Autobiografie vermischenden Roman Schlachthof 5 die Zeitwahrnehmung auf dem Planeten Tralfamadore. Dessen Bewohner „können sehen, wie Augenblicke fortdauern, und jeden Augenblick beobachten, der sie interessiert“. – Allen, die mit Büchern leben, wird das tralfamadorische Zeitverständnis ohne Weiteres einleuchten: Aus der Gegenwart in die Vergangenheit zu wechseln, wie Billy Pilgrim, der Protagonist in Vonneguts Roman, ist vor dem Bücherregal ein Kinderspiel. Bücher sind fixierte Augenblicke – nicht im übertragenen, nein, in einem ganz handfesten, materiellen Sinne: Man zieht ein Buch aus dem Fach, schlägt es auf und ist mitten im Jahr 1977: Eine Gruppe von Menschen hat ein Konzept, eine inhaltliche Struktur diskutiert, hat Texte geschrieben, Bilder zusammengetragen, jemand hat das Layout entworfen, später die Druckfahnen geprüft und entschieden, dass das Buch jetzt sein Gut zum Druck erhalten kann. Dieses Buch wurde produziert und distribuiert, genauer: Es wurde verstreut und befindet sich heute an den unterschiedlichsten Orten – in öffentlichen Bibliotheken, Antiquariaten, in Bücherregalen, auf Schreibtischen, in einem Umzugskarton verstaut auf dem Dachboden – und in meinem Bücherregal. Auch zweiundvierzig Jahre später kann ich, wenn ich darin blättere, auf die Summe der Interaktionen und Konflikte dieser Gruppe von Menschen im Jahr 1977 zurückgreifen.

Ich weiß nicht mehr genau, wie der Katalog Wem gehört die Welt. Kunst und Gesellschaft in der Weimarer Republik zu mir gefunden hat, ob ich ihn in einem Antiquariat gesehen oder online gekauft habe. 2005, daran erinnere ich mich präziser, habe ich einige der darin enthaltenen Aufsätze gelesen, als ich an einem Buch über den Umgang mit der Nachkriegsmoderne in Leipzig arbeitete. Ungefähr zur selben Zeit muss ich in der Deutschen Nationalbibliothek Inszenierung der Macht. Ästhetische Faszination im Faschismus gelesen haben, ein Buch, das 1987 zu einer Ausstellung in der NGBK erschien. Durch diese beiden Bücher wurde mir damals bewusst, dass die NGBK, die mir als Ausstellungsinstitution durchaus ein Begriff war, in den 1970er, 80er Jahren bemerkenswerte Kataloge produziert, ja, dass sie eine sehr eigenständige Umgangsweise mit der Gattung Ausstellungskatalog gefunden hatte. Ich begann damals, in Antiquariaten gezielt nach Katalogen der NGBK Ausschau zu halten.

Für jemanden, der wie ich selbst Bücher verlegt, der Tag für Tag an neuen arbeitet, mag es seltsam anmuten, aber wenn ich mein eigenes Kaufverhalten betrachte, dann stelle ich fest, dass mich vor allem ältere Bücher interessieren, keine bibliophilen Kostbarkeiten, sondern solche, die fünf, zehn, dreißig Jahre alt sind. Bücher stellen für mich eine Zeitreserve dar, die Möglichkeit, den Radius der Gegenwart auszuweiten, zurückzugreifen in der Zeit.

Wem gehört die Welt. Kunst und Gesellschaft in der Weimarer Republik war 1977 als eine Gegenausstellung konzipiert worden. Die Bundesregierung und der Berliner Senat hatten im selben Jahr die Europarat-Ausstellung Tendenzen der Zwanziger Jahre organisiert, eine Großausstellung, die über drei Standorte verteilt von einer Reihe weiterer Ausstellungen des Bauhaus-Archivs, des Brücke-Museums, des Kunstgewerbemuseums, des Kunstamts Kreuzberg sowie der Sammlung Bröhan flankiert wurde. Tendenzen der Zwanziger Jahre war von einer weitgehend traditionellen kunsthistorischen Sichtweise geprägt, die Kunstproduktion unabhängig von gesellschaftlichen Zusammenhängen betrachtete. Infolge der Studentenbewegung hatte sich in Westberlin eine Gegenkultur herausgebildet, die das offizielle Großereignis zum Anlass nahm, eine andere, die sozialen Fragen nicht ausklammernde Perspektive auf die klassischen Avantgarden zu werfen. Eine zentrale Institution dieser Gegenkultur war die 1969 als alternativer, basisdemokratisch organisierter Kunstverein gegründete Neue Gesellschaft für bildende Kunst (NGBK). Auf Anregung von Peter Hielscher hatte sich bereits Anfang des Jahres 1976 eine Gruppe von etwa zwanzig Personen in der NGBK zusammengefunden, um sich mit der Arbeiterkultur und dem künstlerischen Engagement für eine Veränderung der Welt zu befassen, aber auch mit Kunst „als Medium der Reflexion, Organisation, Unterhaltung und Entfaltung von und im Alltag“. Behandelt wurden Architektur, bildende Kunst, Literatur und Publizistik, Arbeitertheater, Arbeiterfotografie, Film und Musik jeweils im Kontext ihrer gesellschaftlichen Bedingungen und ihrer Wirkungsgeschichte.

Der Gegensatz zwischen den beiden Ausstellungen wird in den begleitenden Publikationen deutlich. Der Katalog Tendenzen der Zwanziger Jahre ist ein schwerer, 1.144 Seiten starker, schwarzer, fast quadratischer Stein. Unter den vielen Abbildungen, die der Band enthält, findet sich keine einzige, die dasgesellschaftliche Leben, den Alltag der 1920er Jahre zeigt. Die ästhetischen Zeugnisse – egal ob Mondrian-Gemälde, Dada-Poem, Wolkenkratzer oder Wagenfeld-Lampe – sind von der historischen Situation ihrer Entstehung abgekoppelt. Ganz anders in Wem gehört die Welt: Der Vorsatz zeigt eine Straßenszene während der Novemberrevolution, der Nachsatz Wehrmachts-Soldaten in Marschformation – zwei Bilder als Klammer einer Epoche. Ein Prinzip, das sich über alle 564 Seiten des Bandes erstreckt: Wahlplakate, Tabellen zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit und Doppelseiten aus Illustrierten stehen neben Gemälden, Architekturfotografien, den Entwürfen von Buchumschlägen und Filmstills. Die großen Seiten des Katalogs – im Format 21 × 29,5 cm – ermöglichen ein lebendiges Wechselspiel zwischen Text und Bild. Oft sind in den zweispaltig gesetzten Texten mehrere Bilder platziert, so dass jede Doppelseite anders aussieht. Zwischen den Aufsätzen finden sich historische Dokumente: Manifeste, Briefe, Reden und Artikel. Wem gehört die Welt hat einen grundsätzlich anderen Gestus als Tendenzen der Zwanziger Jahre: Während der eine Band einen lebendigen Austausch mit der vergangenen Epoche und ihrer Kultur sucht, wird sie im anderen kühl und mit historischer Distanz katalogisiert.

Hat man einmal begonnen, eine eigene Bibliothek zusammenzutragen, hört man auf, einzelne Bücher zu lesen und nimmt fortan jedes Buch vor dem Hintergrund anderer Bücher wahr – Bücher, zu denen es eine Wahlverwandtschaft unterhält oder in Opposition steht: Jede Bibliothek erzeugt so eine Vielzahl von Verstärkungseffekten, Wechselwirkungen und Gegenbewegungen. Wem gehört die Welt steht in meinem Regal direkt neben zwei Bänden, die Pontus Hultén als Gründungsdirektor des Pariser Centre Pompidou in den späten 1970er, frühen 1980er Jahren herausgegeben hat: Paris – Berlin und Paris – Paris. Diese Bände haben nicht nur das gleiche Format wie Wem gehört die Welt, auch in ihrem interdisziplinären Ansatz, die ganze Bandbreite des kulturellen Lebens einer Epoche einzubeziehen, berühren sie sich. Pontus Hultén begann seine Tätigkeit am Centre Pompidou mit einer Reihe von Ausstellungen, die die Wechselwirkung zwischen Paris und anderen Kunstmetropolen – New York, Berlin und Moskau – im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts aufzeigten. Diese Ausstellungen galten in den 1970er Jahren als wegweisend. Auch die vier Kataloge, die die Ausstellungsreihe begleiteten und von ihrem Charakter her eher enzyklopädische Handbücher waren, setzten mit ihren zahlreichen Abbildungen, Dokumenten, Essays und Chronologien Maßstäbe. Betrachtet man die Publikationen der NGBK aus derselben Zeit, die nicht nur in der Grundtendenz, sondern oft bis zum Seitenaufbau eine Nähe zu Hulténs Katalogen zeigen, wird deutlich, auf welchem Niveau – bei ungleich geringeren Mitteln – in Berlin publiziert wurde. Einige NGBK-Kataloge wie Kunst in die Produktion / Kunst aus der Revolution oder Wem gehört die Welt (beide von 1977) erschienen sogar einige Monate vor Hulténs Büchern. Möglicherweise wäre es ja lohnend, einmal genauer zu schauen, ob die Ausstrahlung dieser Bände nicht bis nach Paris reichte. Auf der Höhe der Zeit waren sie in jedem Fall. Welche Wirkung die NGBK-Kataloge in den 1970er Jahren hatten, lässt sich auch anhand ihrer – heute kaum vorstellbaren – Auflagenhöhen nachvollziehen. Renzo Vespignanis Katalog Faschismus erschien in mehr als 120.000 Exemplaren; eine ganze Anzahl von Katalogen wurde mehrfach aufgelegt, so auch Wem gehört die Welt, der es auf drei Auflagen brachte. Ein Charakteristikum all dieser Publikationen ist, dass sie immer auch den gesellschaftlichen Hintergrund der Kunst aufzeigen. So werden die Reproduktionen von Renzo Vespignanis neorealistischem Zyklus Über den Faschismus in eine mehr als 300 Seiten umfassende Darstellung eingebettet, die den europäischen Faschismus in seinen Ursachen und Konsequenzen detailliert anhand von Texten und Fotografien beschreibt. Im Katalog verzahnen sich so historische Dokumentation und ästhetische Analyse. Erstaunlich ist an diesen Katalogen nicht zuletzt der Grad ihrer Durcharbeitung: die Menge an Bildern, Texten und Materialien, die in jedem dieser Bände zusammengetragen wurden, um so eine historische Grundierung des jeweiligen Ausstellungsthemas zu liefern. Es waren eben nicht nur einzelne Kuratorinnen oder Kuratoren, sondern immer größere Arbeitsgruppen, die die Ausstellungen vorbereiteten. Anders wäre der immense Output dieser Jahre nicht möglich gewesen.

Ich habe Vertrauen in das Medium Buch, nicht zuletzt seiner Robustheit wegen. Einmal in der Welt, sind Bücher da und bleiben greifbar. Wie schwierig ist es, eine zehn Jahre alte Webseite wiederzufinden; Hörspiele, die vor zwanzig Jahren produziert wurden, kann man nur hören, wenn ein Radiosender sich entschließt, sie noch einmal ins Programm zu nehmen; und Videokassetten verstauben im Keller, seit der VHS-Recorder kaputtging und das nächste Gerät nur DVDs und Blu-rays abspielt. Bücher können warten.

Irgendwann stieß ich im Antiquariat auch auf jenen Katalog von Renzo Vespignani, den die NGBK 1976 herausgegeben hatte. Im ersten Moment war mir die figurative Malerei des italienischen Neorealisten ebenso fremd wie die Kombination seiner essayistischen Malerei mit zwei umfangreichen Materialkapiteln, die die Arbeitsgruppe zur Geschichte des deutschen und italienischen Faschismus zusammengetragen hatte. Durch die Rohheit des Layouts, das nicht überdeckte, aus welch unterschiedlichen Quellen das Material stammte, wirkt das Buch eher wie ein Reader als ein Ausstellungskatalog. Je mehr ich darin las, desto stimmiger erschien mir sein Aufbau: In Vespignanis Text „Zwischen zwei Kriegen“ stieß ich auf einen Satz, in dem der Maler Wilhelm Reich zitiert: „So unangenehm sie auch sein mag, es scheint mir unmöglich eine Behauptung Reichs zu widerlegen, nach der ‚sich der Faschismus als politische Bewegung von den anderen reaktionären Parteien dadurch unterscheidet, daß er von den Menschenmassen unterstützt und verbreitet wird‘; und daß ‚er nicht, wie man allgemein glaubt, eine rein reaktionäre Bewegung, sondern ein Amalgam aus rebellierenden Gefühlen und sozialreaktionären Ideen ist‘.“ Beim Lesen verstand ich die Aktualität dieses mehr als vierzig Jahre alten Buchs, das man heute für vier Euro mühelos online bekommen kann.

Erschienen in: nGbK Verlagsverzeichnis 2019. 50 Jahre - 440 Publikationen, nGbK Berlin, 2019, S. 17-23.

Related

nGbK Verlagsverzeichnis 2019

50 Jahre – 440 Publikationen

Type: Print publication, PDF, E-Pub