Judith Siegmund: Zwischen selbstgestalteten Künstlerbüchern und den Produkten eines digitalen globalen Buchmarkts

Wohin entwickelt sich das Publizieren in der nGbK?

25.3.20 Type: Essay Languages: Deutsch

440 Publikationen in 50 Jahren – gehen wir von satzungsgemäßen fünf nGbK-Mitgliedern pro Arbeitsgruppe aus, dann ergibt sich hieraus eine Zahl von 2.200. Manche gaben mehr als eine Publikation mit heraus, andere Arbeitsgruppen waren größer als nur fünf Mitglieder. Ungefähr kann es mit den 2.200 aktiven Ideengeber­_innen seit 1969 also stimmen. Ein solches Zahlenverhältnis gibt es sonst nirgendwo. Kollektive Herausgeberschaft war vermutlich in den ersten Jahren der nGbK ganz anders gemeint, als sie heute z. B. in den Wissenschaften praktiziert wird. Roland Barthes’ Slogan vom „Tod des Autors“ hatte seit dem Ende der 1960er Jahre eine starke Beachtung erfahren; möglich ist, dass er von den nGbK-Mitgliedern in eine kollektive kuratorische Arbeitsweise umgedeutet worden ist. So wie für das gemeinsame Ausstellungsprojekt zeichnet auch jeweils die ganze Autor_innengruppe verantwortlich für ‚ihre‘ jeweilige Publikation. Seitdem die Ideen vom Tod des männlichen Autors die Runde machten, sind allerdings fünfzig Jahre vergangen, und heute ist es den Arbeitsgruppenmitgliedern wieder wichtig, auch als Autor_innen aufzutauchen – nicht zuletzt, um die publizistische Mitarbeit in die eigene künstlerische oder wissenschaftliche Karriere einzubinden.

Nicht allein die Formate der Publikationen haben sich weiterentwickelt; ihr Aussehen,

ihre dokumentierenden und forschenden Ansätze, ihre Gestaltung und die Techniken ihrer Realisierung, auch die regionale und globale Landschaft des Publizierens allgemein sind starken Veränderungen unterworfen. Einige dieser Veränderungen haben wir womöglich noch gar nicht im Blick, da sich die Kontexte rund ums kulturelle Medium Buch gerade weiterentwickeln.

Der vorliegende Essay kann das nicht vollständig analysieren, eher nur einige Details benennen. Gleichwohl kommt es darauf an, noch einmal neu zu fragen: Was waren und sind die nGbK-Publikationen heute und wie werden sie sich zukünftig in digitale Buchmärkte integrieren oder sich von ihnen distanzieren? Welche Formate wird es in Zukunft geben zwischen den Genres des gut gestalteten Künstlerbuches für eine kleine spezialisierte Community und der Publikation für globale anonyme Buchmärkte, auf denen gewissermaßen eine globale Kontextlosigkeit der regionalen Inhalte dominiert?

 

Was sind nGbK-Publikationen?

 

Zunächst, wie sehen sie aus? Es handelt sich um eine Gruppe vieler verschiedener Formate, realisiert in unterschiedlichen Materialien und Gestaltungen: Ausstellungskataloge, Dokumentationen von Wettbewerben, Reader, Glossare, Enzyklopädien, wissenschaftliche Textsammlungen, Materialsammlungen, künstlerisch gestaltete Bücher und aktivistische Streitschriften, Dokumentationen der Kunstvermittlung und Ergebnisse künstlerischen Forschens. Und oftmals hat man es mit einer Mischung aus mehreren der aufgezählten Formate zu tun. Fasst man sie räumlich auf wie die Ausstellungen, mit denen sie fast immer in Verbindung stehen, ließe sich von diesen Büchern als kuratorischen Räumen sprechen: Die kuratorische Idee verstehe ich hier als eine der Wissensgenerierung durch Anordnung und Konfrontation von Materialien, die so vorher noch nicht zusammengestellt worden sind.

In den Publikationen bildet sich auch ab, wie sich die neue Gesellschaft für bildende Kunst als Kunstverein vom Profil ihrer Mitglieder her entwickelt hat – in den 1970er und 1980er Jahren gab es eine Anzahl von Büchern, die man als Mittelweg zwischen Katalog und wissenschaftlichem Sammelband beschreiben könnte. Viele Kunstwissenschaftler_innen und journalistisch arbeitende Mitglieder der nGbK publizierten Texte in großen Begleitkatalogen zu Ausstellungen mit geschichtlichen Themen, z. B. Inszenierung der Macht. Ästhetische Faszination im Faschismus. Diese Texte sind Dokumente wissenschaftlicher Arbeit zu aktuellen politischen Themen, die damals an den Universitäten mitunter (noch) nicht ohne Weiteres möglich war. Die damalige nGbK war somit ein Ort, an dem solche universitären Fächer wie die Kunstwissenschaft sich aufgrund besonderer Publikationsbedingungen inhaltlich weiterentwickeln konnten. In diesem Sinne haben diese Publikationen auch dazu beigetragen, den Kanon in diesen akademischen Fächern zu erweitern.

Traditionell setzten sich die Mitglieder der im 19. Jahrhundert gegründeten Kunstvereine aus Mäzenen und bürgerlichen Förderern der Künste zusammen, Künstler_innen zählten weniger dazu, ihre Arbeiten wurden hingegen in den Räumen der Kunstvereine ausgestellt. Die Verschiebung und Weiterentwicklung der Methoden und Strategien künstlerischen Handelns seit den 1970er Jahren führte im Fall der nGbK dazu, dass immer mehr künstlerisch Arbeitende selbst als aktive Mitglieder in den Kunstverein eintraten. Die seit den 2000er Jahren geförderte Kunstvermittlung sorgte abermals für ein neues Profil in der Mitgliederschaft. Basisdemokratische Arbeitsweisen zielten auf aktivistisch Denkende und Handelnde, und das Thema des künstlerischen Forschens, wie es sich im letzten Jahrzehnt etabliert hat, lässt wiederum wissenschaftliche und künstlerische Arbeits- und Publikationsweisen näher zusammenrücken.

 

Kontexte von nGbK-Publikationen in der Vergangenheit

 

Das Profil der Mitglieder der nGbK hat sich in den zurückliegenden fünfzig Jahren geändert, ihre Vorstellungen und Ausführungen von Publikationen ebenfalls. Das Aussehen und die Inhalte der Bücher bilden gestalterische Trends und Geschmacksentwicklungen im Sinne eines veränderten Zeitgeistes und verschiedener Politiken ab – wie sollte es auch anders sein? Bücher und Kataloge hatten in Zeiten allein analoger Printverfahren einen ganz anderen Status als heute angesichts digitaler Gestaltung und individualisierter Herstellungsmöglichkeiten. Sie waren etwas Kostbares. Den Wissenschaftsgenerationen der 1970er und 1980er Jahre ging es um die fehlende oder unvollständige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, um einen Feminismus, der erst noch etabliert werden musste, um Subjekte, deren Identität gegenüber Ausschlüssen innerhalb und außerhalb der Künste thematisiert und eingeklagt werden musste. Thematisch stimmen Projekte überein in der Reibung an der Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland einschließlich ihrer Täuschungen, Selbstrechtfertigungen und Verdrängungen, einschließlich eines Anerkennungskampfes von Homosexuellen, von Gastarbeiter_innen in den Nachbarschaften der nGbK, von Künstlerinnen, die nicht den geforderten Arbeitsweisen anhängen. Die Rolle der Kunst wurde aus der Perspektive ihrer politischen Funktion für eine gerechtere Gesellschaft thematisiert, aber auch im Verhältnis zur Idee des sozialistischen Realismus in der DDR, einer DDR, die einige Kilometer weiter dauerpräsent war. Die Gründung des Realismusstudios war eine Reaktion auf den im Westteil Berlins und Deutschlands propagierten freiheitlichen Kunstbegriff der Abstraktion, welcher alle realistischen Malstile und Darstellungen wegen ihrer scheinbaren Ähnlichkeit mit dem sozialistischen Realismus im Sinne einer Feindschaft ausschloss. In den Ausstellungen, die das Realismusstudio kuratierte, wollte man Vertreter_innen des aktuell praktizierten Realismus, der an die Vorkriegsmoderne anknüpfte, ein Podium geben. Wie groß die öffentliche Entrüstung über das Zeigen realistischer Positionen im Kunstbetrieb und in der Stadtöffentlichkeit war, ist aus heutiger Perspektive fast nicht mehr vorstellbar – so wie sich von jüngeren Mitgliedern die Atmosphäre des Kalten Krieges heute nicht mehr imaginieren lässt. Aus diesen ersten Jahrzehnten stammen einige umfangreiche Einzelkataloge künstlerischer Positionen eines Realismus, der kein sozialistischer Realismus gewesen ist, aber vermutlich immer an diesem gemessen wurde – auch von den linken Mitgliedern, die ihn ausstellten.

Wie sich der Blick auf Themen der Publikationen von damals bis heute geändert hat, lässt sich beispielhaft an der ihrer inhaltlichen Wandlung der Publikationen zum Arbeitsbegriff zeigen. Der Begriff Arbeit spielt von Anfang an eine große Rolle in den Herausgaben der nGbK. 1979 geht es im gleichnamigen Katalog zur Ausstellung Arbeit und Alltag. Soziale Wirklichkeiten in der belgischen Kunst. 1830–1914 darum, anhand von Bildmotiven der Belgischen Kunst und Abbildungen arbeitender Menschen den historischen Wandel und die Veränderung von Tätigkeiten, Städten und Landschaften zu zeigen – eine fast museale Herangehensweise. 1986 wird in Mein Vaterland ist international – der 1. Mai ab 1886 die Geschichte des Maifeiertags als Tag der Arbeit und als Symbol und Realisierung der internationalen Geschichte des Arbeiterkampfes in den Mittelpunkt gestellt. 1997 – acht Jahre nach dem Mauerfall – geht es in Faktor Arbeit um die Menschen, die in sogenannten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) zwischenbeschäftigt werden, nachdem sie ihre Arbeitsstellen infolge der Wende verloren haben. Hier rücken u. a. „Fragen zur Zukunft der Arbeit in den hoch entwickelten Technologiegesellschaften“ 1 in den Fokus. Von der Situation der Arbeiter_innen aus verschiebt sich der Blick hin zur allgemeineren Frage: Was ist überhaupt Arbeit? Die Wiener Künstlergruppe Wochenklausur versucht noch einmal 1998, bestehende Netzwerke zu nutzen, um neue Tätigkeitsfelder (für Nichtkünstler_innen) zu schaffen, während 2004 gleich drei Publikationen aus einer teilnehmenden Perspektive eigene Prekarität, Ökonomisierung der Kultur und die unbezahlte Mitarbeit im Kunstverein nGbK selbst thematisieren (fast umsonst, Tätig Sein. Zur Ökonomisierung der Kultur und Kulturalisierung der Ökonomie und Prekäre Perspektiven … in der Neuen Gesellschaft). Der Fokus hat sich hier eindeutig verschoben und liegt jetzt auf der Prekarität kultureller und künstlerischer Berufe (im Sinne einer Künstlerkritik, die sich von der Sozialkritik abgespalten hat, wie es Luc Boltanski und Eve Chiapello analysiert haben 2 . In darauf folgenden Publikationen geht es dann um Multitasking, Nichtstun, Überarbeitung und Burnout. 3 Die Perspektive auf die Prekarität der Künstler_innen hat sich hier wieder im Rahmen der Fragestellung nach der Situation kreativer Berufe geweitet. Die Publikationen dienen nun weniger der Dokumentation und Reflexion ganzer Themenfelder, vielmehr sind sie zu Medien künstlerischer und kultureller Selbstverständigung geworden und richten sich nicht mehr an ein Fachpublikum im Sinne einer Erweiterung von Fächerkulturen.

 

Kontexte von nGbK-Publikationen heute und in Zukunft

 

Heute sind kreativindustrielle Entwicklungen, Tourismus, Migration und Probleme transnationaler Metropolen wie z. B. Gentrifizierung charakteristische Themen. Auch der Kunstbegriff hat sich erneut gewandelt. Herausgeber_innen sind in einem hohen Maß interdisziplinär; bis in naturwissenschaftliche Fächer hinein, bis hin zu Urbanistik, Literaturwissenschaft und Musik gehören sie verschiedenen Disziplinen an. Es gibt nicht mehr den einen linken Diskurs zur Rolle der Kunst, vielmehr schreiben und veröffentlichen auch bildende Künstler_innen selbst fächerübergreifend und interdisziplinär, aber auch interkulturell und zu verschiedenen Themen, die keine einheitliche, allen Projekten zugrundeliegende Fragestellung mehr aufweisen. Geändert hat sich somit auch die Definition von bildender Kunst selbst, ihre Politizität wird sehr unterschiedlich ausgelegt und praktiziert. Ein Effekt ist, dass die Publikationen jetzt wie ein bunter Strauß verschiedener Themen, Gestaltungen und Formate daherkommen. Wissen über die Erstellung von Publikationen gehört heute mit in das Register von Grundkenntnissen künstlerischer, kulturwissenschaftlicher und aktivistischer, aber auch wissenschaftlicher Tätigkeiten. Wissenschaftsverlage haben große Teile der Arbeitsgänge, die früher von Fachleuten durchgeführt wurden, ausgelagert an ihre Autor_innen, die dadurch mehr vom Publizieren verstehen. Besonders in Kunst- und Kulturkontexten lässt sich unter diesen neuen Bedingungen selbstbestimmt und auch mit kleineren finanziellen Beträgen publizieren. Neben Dokumentationen und Katalogen werden u. a. Reader, Hefte und Zeitungen hergestellt. 4

Dennoch stellt sich die Frage nach dem Charakter und den Eigenschaften der nGbK-Publikation heute noch einmal ganz neu und ganz anders als zuvor. Denn nicht nur die Print-Publikationen selbst haben sich in Form, Inhalt und Erscheinung gewandelt, auch das Publizieren in Printmedien generell ist neuen Parametern und Entwicklungen unterworfen. Der Buchmarkt selbst wird immer globaler – auch wenn Bücher noch in verschiedenen Sprachen erscheinen. Die Verlagslandschaft hat sich bereits gewandelt – einige große Player haben kleine Verlage aufgekauft und kämpfen jetzt untereinander darum, den Wettbewerb um den E-Book-Markt zu gewinnen. Die Bedingungen für Autor_innen haben sich trotz der globalen Sichtbarkeit ihrer Texte verschlechtert, die Inhalte der Bücher erscheinen immer mehr aus ihren Herkunftskontexten herausgelöst und erreichen so immer weniger diejenigen Gruppen, für die sie geschrieben worden sind. Ein globaler Buchmarkt wird von den Konzernen aufgebaut, dabei ist die beherrschende Idee die eines internationalen Fachdiskurses. Unter dem irreführenden Label „Open Access“ geht es drei großen Verlagen (Springer Nature, Elsevier, Wiley) darum, sogenannte „Deals“ mit Regierungen von Ländern abzuschließen, die darauf hinauslaufen, Universitätsmitgliedern die Veröffentlichung ihrer Texte nur in den digitalen Medien des eigenen Verlags zu erlauben, der mit den öffentlichen Geldern des jeweiligen Landes finanziert ist. Auf diese Weise werden Millionen öffentlicher Gelder an die Buch- bzw. Medienkonzerne transferiert. Verschwiegen wird dabei, dass die Texte auf den Servern der Verlage gespeichert sind, zu denen sie lediglich Zugangsrechte verkaufen – an Bibliotheken zu Paketpreisen. Das bedeutet, dass nur diejenigen, die Mitglieder einer Universität sind, diese Bücher lesen können und dass auch nur Mitglieder von Universitäten dort veröffentlichen können. Es werden damit zwei Gruppen geschaffen: diejenigen, die in Institutionen/Universitäten integriert sind, und diejenigen, die außerhalb bleiben und keinen Zugang zu Publikationen mehr bekommen. Da die Printmedien, die als Books-on-Demand immer noch hergestellt werden, zu unverhältnismäßig hohen Preisen verkauft werden, sind sie für Menschen außerhalb der Institutionen, aber auch für Bibliotheken nicht mehr erwerbbar. Viele solcher Verträge zwischen Regierungen, Universitäten und den drei Verlagen sind bereits abgeschlossen. 5 Bücher sind kapitelweise zu erwerben; das läuft auf nicht weniger als auf das Ende des Mediums Buch hinaus, so wie wir es uns noch vorstellen und an dem wir letztendlich – bei aller Suche nach eigenen/neuen/demokratischen Formaten – bisher orientiert waren. Den Maßstab dieser vielleicht bisher zu wenig bemerkten Umstrukturierung von Herstellungsbedingungen und des Zugangs zu Büchern bilden die Naturwissenschaften, deren aktuelle Forschungsergebnisse (aus einer Perspektive der Karriereplanung von Naturwissenschaftler_innen und aus ökonomischen Interessen von Staaten und Konzernen) schnell einem internationalen Markt zugänglich gemacht werden sollen. Ein zweites – alternativ strukturiertes – Konzept der Entwicklung des Publikationsmarktes für künstlerische, geisteswissenschaftliche oder belletristische Bücher ist mir nicht bekannt. Es ist gut möglich, dass die skizzierten Entwicklungen auf dem wissenschaftlichen Buchmarkt die Entwicklung des Mediums Buch als Ganzem grundsätzlich bestimmen werden.

Lassen sich nGbK-Publikationen als eine Alternative zu den digitalen, globalen Produkten großer Verlage verstehen? Oder stellt diese Frage eine Vereinfachung dar? Stehen die Veröffentlichungen für ein romantisches Antimodell der Digitalisierung/Globalisierung? Allgemein sind handwerklich hergestellte Gegenstände in den letzten Jahrzehnten sehr in Mode gekommen, sie werden als Pendant zu den industriell hergestellten Massenwaren wieder mehr von Konsument_innen geschätzt – nicht zuletzt auch, um dem eigenen Leben einen Flair von etwas Eigenem und Besonderem zu verleihen. Wäre eine solche parallele Praxis des Publizierens nicht unpolitisch? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Künstlerbuch als Genre? Für wen wird es gemacht? Welcher Status kommt unter diesen neuen Bedingungen einer künstlerischen bzw. von Künstler_innen entworfenen Publikation zu?

 

Was gibt es heute noch?

 

Wenn Künstlerbücher auch als E-Books erscheinen, so leuchtet uns ein, dass damit weniger Papier verbraucht wird und dass die Herstellungskosten für prekäre Produzent_innen niedriger sind. Auch wenn solche Aspekte zunächst wichtig erscheinen, wäre es vermutlich für die nGbK von Bedeutung, sich grundsätzlicher über gesellschaftliche, soziale und politische Strukturen des E-Publishings Gedanken zu machen. Verlage lassen es sich zurzeit teuer bezahlen, wenn man eine Open-Access-Publikation herausgeben möchte, was auf die altbekannte Tatsache hinausläuft, dass nur Menschen in Institutionen, die den Verlagen hohe Summen zur Verfügung stellen, in der Lage sind, ihre Publikationen wirksam als Open-Access-Produkte zu veröffentlichen.

Es gibt Initiativen und Plattformen, nicht zuletzt im künstlerischen Kontext, die etwas anderes versuchen. Welche Chancen sie in Zukunft unter verschärften europäischen Urheberrechtsbedingungen haben und ob sie irgendwann von einer Konkurrenz einfach aus dem Internet vertrieben werden, ist offen. Digital Commons sind Internetplattformen, auf denen Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen und andere Menschen Open-Access-Formate der Allgemeinheit zur Verfügung stellen und damit Ausschlüsse verhindern. Oftmals sind sie im künstlerisch-kulturwissenschaftlichen Bereich im Kontext von Institutionen angesiedelt – nutzen beispielsweise deren Server – und überschreiten zugleich gezielt Anliegen und Wirkungen dieser Institutionen. Sie richten sich bewusst gegen Kommodifizierungsprozesse, d. h. gegen kapitalistische Einhegungen gemeinschaftlicher Güter, und als eine solche Einhegung ließen sich die „Deals“ der Verlagskonzerne beschreiben, in denen sich die Verlage Autor_innenrechte genauso für den ökonomischen Wettbewerb sichern wie öffentliche Finanzen und Bibliotheksverträge. In solcherart Einhegungen kommt es immer zum Ausschluss anderer Menschen, das ist eines ihrer grundsätzlichen Merkmale. Digital-Commons-Plattformen hingegen versuchen dem entgegenzusteuern, sie versuchen geteilte Ressourcen („public goods“) zugänglich zu machen sowie neue Beziehungen („common-pool resources“) zu stiften. Diese Beziehungen sind im Fall einiger bereits länger existierender Digital-Commons-Plattformen nicht durch ökonomische Kriterien definiert, vielmehr steht im Mittelpunkt der Gedanke der direkten sozialen Kooperation. 6 Die Betreiber_innen haben nicht die Freiheit der Kunst im Blick, sondern die konkrete Praxis des „Commoning“, in der sie an der Herstellung, Organisation, Pflege und Zugänglichkeit von „common-pool resources“ arbeiten. Mit einem solchen Anliegen würde sich eventuell auch an die Vergangenheit des Publizierens in der nGbK anknüpfen lassen – als eine Fortsetzung der gesellschaftspolitischen Prämissen früherer Publikationen unter neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Umständen. Fragen nach der Größe und Zusammensetzung einer Lesegemeinschaft und Fragen zu Werbung und Vertrieb bleiben dabei allerdings weiterhin wichtig.

Erschienen in: nGbK Verlagsverzeichnis 2020/2021, nGbK Berlin, 2020, S. 17-23.

  1. Leonie Baumann: Titel, in: nGbK (Hg.): Faktor Arbeit. Berlin 1997, S. 5.
  2. Luc Boltanski/Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003.
  3. Gemeint sind die nGbK-Publikationen Multitasking. Synchronität als kulturelle Praxis (2007), unvermittelt. für einen Arbeitsbegriff jenseits von Überarbeitung und Mangel (2008), Nichtstun …in der neuen Gesellschaft (2008), sowie A Burnt-Out Case? (2012).
  4. Vgl. dazu das nGbK-Projekt drucken heften laden (2015).
  5. Vgl. Wikipedia: DEAL (Projekt); Zugriff: 19.03.2020.
  6. Vgl. z. B. Yochai Benkler: „The Political Economy of Commons“, in: 4 UPGRADE 6 (2003); Felix Stalder: Kultur der Digitalität. Berlin 2016, S. 245ff.

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