Anlage/Anlegen

2021 Typ: Glossar

Urbane Praxis versucht mit künstlerischen Mitteln, Visionen und Strategien für ein verbessertes städtisches Zusammenleben zu schaffen. Dafür werden aktuelle Herausforderungen angepackt, solidarische Gemeinschaft gestärkt und vor allem der städtische Raum neu gedacht. Als Keimzelle oder Schaltzentrale dieses neuen städtischen Handelns kann die Anlage verstanden werden. An bestehenden oder neuen Orten legt sie lokale, interdisziplinäre, kooperative, beziehungsorientierte und visionäre Arbeitsweisen an. Das Ziel: gemeinsame Stadtgestaltung. Urbane Praxis ist weder Projekt, Prozess oder Profession, sondern ein Experiment dessen, was wir uns als städtische Gemeinschaft vorstellen: Genossenschaftshochhaus, Nachbarschaftscampus, Peripheriemuseum, Pfahlbautenuniversität, Stadtweidenmusikschule, Materialkreislauflager – was brauchst Du in Deiner Stadt?
Dabei geht es nicht unbedingt darum, neue Institutionen zu gründen, wie diese unzulässige Aufzählung suggeriert, sondern um die Diskussion und Gestaltung dessen, was wir als Stadtbewohner_innen eigentlich brauchen. Das kann auch beispielsweise etwas Temporäres, Performatives oder Anarchisches sein.
Es liegt also erstmal an uns, das anzulegen, was wir brauchen. Klingt nach einer großen Aufgabe, lässt sich aber recht einfach machen, wenn man sich einen Garten, eine Allmende oder einen sonstigen gemeinsamen Ort vorstellt. Das sind uns doch sehr vertraute Prinzipien, denn schon seit Jahrhunderten üben wir uns im Umgang mit der Entwicklung von Flächen und Räumen, die eine Gruppe von Menschen für das Gemeindewohl als notwendig erachtet. Diese Kulturleistungen können im Heute und der Großstadt ganz verschiedene Formen annehmen: lang geplant, groß gestaltet, weit sichtbar oder, genau entgegengesetzt, kurzfristig notwendig, spannend intervenierend, szeneaffin. Manchmal wird etwas ganz Neues gesetzt, oder aber es wird auf bestehenden Strukturen aufgebaut – wie bei einem Brettspiel gewissermaßen das noch fehlende Teil angelegt. Wichtig ist vor allem, dass es zum Mitmachen einlädt. Wir haben bestimmte Veranlagungen, also bestehende Bedürfnisse, die es im Rahmen der sich schnell verändernden Städte zu diskutieren gilt. Wo lohnt es sich anzulegen bzw. in was wollen wir als Gemeinschaft eigentlich investieren?
Da es das, was es braucht, damit es besser wird, meistens noch nicht gibt, legen wir es darauf an: Wo ist ein guter Ort? Wen brauchen wir dafür? Wie funktioniert das eigentlich? Manches ist dann doch schon in Teilen vorhanden, braucht nur einen Ort, mehr Aktivismus oder ein neues Gesicht. Vieles ist aber neu, weil der entstehenden Anlage die involvierte Disziplin oder betroffene Institution nicht so wichtig ist. Das heißt, sie operiert mit visionärem Blick auf das zu gestaltende Ziel, holt sich notwendiges Wissen dazu und leistet politische Überzeugungsarbeit: Das mitreißende, gemeinsame Machen.
Das Ergebnis ist ein neuer oder wiederentdeckter Ort, als Beitrag zum Allgemeinwohl und mit einem aufrüttelnden Bild für die Zukunft unserer Stadt. Eine neue Anlage.

Anton Schünemann ist Experte für Kulturelle und Politische Bildung. Als Absolvent der Bauhaus- und der Europa-Universität in Weimar und Frankfurt/Oder berät und unterstützt er u.a. Stiftungen, NGOs und wissenschaftliche Einrichtungen. Seit 2014 ist er Programmkoordinator und Strategieentwickler bei der S27 – Kunst und Bildung. Er ist Mitbegründer der Arbeitsintegrationsinitiative Arrivo Berlin, des Zentrums für Kreislaufwirtschaft Haus der Materialisierung und der Initiative Urbane Praxis.