Autonomie

2021 Typ: Glossar

Einer der Begriffe, die sowohl in der Kunst als auch in der Politik am meisten beachtet und umstritten sind, ist der der Autonomie, ein Begriff, der in beiden Bereichen unterschiedliche, aber auch miteinander verknüpfte Bedeutungen hat, was jedoch nur zu weiterer Verwirrung und Komplexität beiträgt. Nichtsdestotrotz hat er jedoch eine große Bedeutung für urbane Praktiken, nicht zuletzt deshalb, weil sie genau an der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik stattfinden.
Im Bereich der künstlerischen Praxis (und sehr wohl auch in der Kunsttheorie) wird Autonomie üblicherweise im Sinne der historischen Avantgarde-Bewegungen der frühen europäischen Moderne verstanden, wo sie eine künstlerische Produktion bezeichneten, die unabhängig von Kirche und Staat und sogar vom Markt war. Autonome Kunst war formal neuartig und brach mit der Tradition. Gleichzeitig war sie jedoch auch kritisch gegenüber institutioneller Macht, innerhalb der Kunst und innerhalb der Gesellschaft. In der zeitgenössischen Kunst hat künstlerische Autonomie jedoch auch negative Konnotationen, die sich darauf beziehen, dass einige Künstler_innen alles, was sie tun oder sagen, als freie Rede verteidigen, ohne Rücksicht auf Privilegien, Konsequenzen und Kontexte. Aus diesem Grund gilt der Begriff der Autonomie mittlerweile als unzureichend, um die Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten der Kunst in einer multipolaren Gesellschaft zu verstehen, was zu dem dienlicheren Begriff der relativen Autonomie geführt hat.
Auch in der politischen Theorie und Praxis der Avantgarde hat der Begriff der Autonomie eine umstrittene Geschichte. Technisch gesehen steht er für Selbstverwaltung, in der Regel im Sinne eines Territoriums, das außerhalb der Kontrolle des Staates bleibt und in einem urbanen Kontext oft mit Hausbesetzungen und selbstorganisierten Räumen in Verbindung gebracht wird. Autonomie steht aber auch für eine radikale linke Politik, die die Idee einer Avantgardepartei an der Spitze des Volkes ebenso ablehnt wie die Institution des Parlaments zugunsten der Versammlung.
Ausgehend von dieser Geschichte können wir Urbane Praxis eher als selbstinstituierend als als anti-institutionell einordnen, im Sinne des Autonomieverständnisses von Cornelius Castoriadis, der Autonomie als Gegensatz zu Heteronomie und nicht zu Institutionalisierung verstand. Autonome Gesellschaften sind solche, in denen die Mitglieder genau wissen, wie sie die sozialen Beziehungen durch und für sich instituieren, im Gegensatz zu heteronomen, in denen die Mitglieder die Ordnung einer Autorität außerhalb der Gesellschaft zuschreiben. Autonomie in diesem Sinne ist der Wille, sich selbst zu organisieren und damit selbst zu instituieren.

Dr. Simon Sheikh ist Kurator und Theoretiker.