Freiraum

2021 Typ: Glossar

Fast alle Erzählungen über das Berlin der Nachwendezeit beginnen mit der Beschreibung von verlassenen und leerstehenden Räumen und Brachflächen im Zentrum der Stadt. Diese wurden als „Freiraum“ deklariert, sie waren frei von Verwertungsdruck und bürokratischer Kontrolle, denn im Zuge der politischen Transformation durch die Wiedervereinigung blieben viele Eigentumsverhältnisse ungeklärt. Zentrale Grundlagen des kapitalistischen Systems und seiner Verwertung von Raum funktionierten vorübergehend nicht mehr.
Diese Situation wird oft als Ausgangspunkt dafür gesehen, dass Berlin sich als Kulturstandort etablieren konnte. Selbstorganisierte, kollektive und disziplinübergreifende Strukturen sowie kostengünstig und einfach anzumietende Räume boten eine Vielzahl von neuen Möglichkeiten des Produzierens, Präsentierens und Vermittelns von Kunst. Während die Narration des Freiraums in der Nachwende davon ausgeht, dass dieser einfach vorhanden sei und nur entsprechend genutzt, umgenutzt und angeeignet werden müsse, möchte ich mit Henri Lefebvre dagegen argumentieren: Raum – und damit auch Freiraum – existiert nicht per se, auch wenn de facto leerstehender Raum vorhanden ist. Im Sinne von Lefebvre ist Raum das Produkt gesellschaftlicher Prozesse: Dazu gehören politische Entscheidungen, soziale und wirtschaftliche Entwicklungen genauso wie subjektive Vorstellungen.
Es handelt sich insofern bei Raum nicht nur um physischen Raum und um gebaute Architekturen, vielmehr kommt ihm durch die Betrachtung der mit seiner Entstehung verbundenen sozialen Prozesse eine kulturelle und zeitliche – und damit veränderbare – Dimension zu. In der Prozessualisierung von Raum liegt dann auch das politische Verständnis, denn die damit verbundenen Machtverhältnisse sind nicht als starre Konstanten zu denken. Raum in Bezug auf Lefebvre ist Teil eines gesellschaftlichen und politischen Aushandlungsprozesses, der ihn gleichsam erst hervorbringt. Urbane Praxis setzt hier an, denn sie gestaltet soziale Prozesse und damit auch die Teilhabe an der Veränderung von Raum und seinen gesellschaftlichen Machtverhältnissen.
Kulturpolitisch kann aus dem Rückblick auf die 1990er Jahre das Fazit gezogen werden, dass nicht allein der Leerstand der Nachwende die Voraussetzung für die Entwicklungen war, sondern ebenso die nicht renditeorientierten Eigentumsstrukturen sowie ausreichend finanzielle Förderung von künstlerischer Arbeit und ein Verständnis von Kunst als Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen. Dies sollten die Stichworte für eine zukünftige Kulturpolitik sein.

Annette Maechtel ist seit März 2020 Geschäftsführerin der nGbK, seit September 2020 ist sie Mitglied in der Initiative Urbane Praxis im Rat für die Künste. Mehrere ihrer Ausstellungs- und Forschungsprojekte beschäftigten sich mit Berlin als einem politischen und diskursiven Raum. 2018 schloss sie ihre Dissertation an der HGB Leipzig am Institut für Theorie ab. 2020 erschien diese bei b_books unter dem Titel „Das Temporäre politisch denken. Raumproduktion im Berlin der frühen 1990er Jahre“.