Infrastruktur, urban

2021 Typ: Glossar

Das gängige Bild der europäischen Stadt ist zumeist das einer Stadt als eng verknüpfte Einheit, die durch Stadtmauern geschützt und durch dieses architektonische Element klar von dem „Anderen“, dem Land getrennt ist. Folglich wird die Gründung einer Stadt als ein magischer Akt gedacht, mit dem eine Gemeinschaft in einem Gebiet etabliert wird, und somit immer noch in ihrer alten Form gefangen ist, die nichts weiter als eine nostalgische Reminiszenz ist. Wie Historiker_innen und Archäolog_innen jedoch nachgewiesen haben, ist die Entstehung einer Stadt in der Regel das Ergebnis einer sorgfältigen Planung von Logistik und Kommunikation. Die geografische Lage einer Stadt entspricht der Notwendigkeit (und dem Wunsch), eine menschliche Gemeinschaft in ein Gebiet einzubetten, aber auch, und das ist entscheidend, diesen Ort zu einem Knotenpunkt für ausgedehnten Verkehr und Austausch zu machen. Vor diesem Hintergrund sind Städte eher aus ihren Straßen als aus ihren Gebäuden erwachsen.
Folgen wir dieser Logik, ist die Stadt der Punkt, an dem sich die Ströme verdichten, und die Urbanisierung ein Prozess der Organisierung und Artikulierung eines Territoriums entsprechend dem Paradigma der Zirkulation. Wir können also die Entwicklung der Städte und ihre heutige Dynamik nur dann richtig verstehen, wenn wir sie nicht weiterhin als isolierte Einheiten betrachten. Im Gegenteil, wir müssen Städte als komplexe Gebilde untersuchen, die sich auf vielfachen Ebenen gemeinsam entwickeln.
Ein epistemischer Wandel hin zu einer so genannten infrastrukturellen Analyse von Städten und Urbanisierungsprozessen ist ein entscheidendes Instrument für das Überdenken jeglicher Urbanen Praxis. Darüber hinaus kann das diagrammatische Netzwerk, das das Infrastruktursystem darstellt, zu einem ökologischen Verständnis des städtischen Stoffwechsels führen, bei dem die Gesamtheit der urbanen Vektoren berücksichtigt wird. Es sind nicht nur die Ströme von Menschen, sondern auch die von Kapital, Waren, Zeichen und Ideen, die die Städte erhalten und ihnen fortwährend Geltung verschaffen. Im weiteren Sinne müssen wir auch die Wasserversorgung, die Stromnetze, die Telekommunikationssysteme, die Kanalisation, die Abfallentsorgung usw. zusammen mit den Eisenbahnen, Brücken, Tunneln und Straßen als wesentliche Bestandteile der physischen und digitalen Infrastruktur betrachten, die das städtische Leben, wie wir es kennen, ermöglichen.
An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass diese bestehende infrastrukturelle Matrix nicht (nur) die überwältigenden technischen Funktionen, sondern auch eine politische Form zum Ausdruck bringt. Wenn wir die Stadt als infrastrukturellen Knotenpunkt oder als eine Meta-Infrastruktur begreifen, impliziert dies eine neue Konzeptualisierung ihrer Ästhetik und ihrer Planung und eröffnet sowohl eine Forschungsagenda als auch eine konkrete Herausforderung für einen zeitgemäßen urbanen Aktivismus. Darüber hinaus führen die neue planetarische Beschaffenheit der urbanen Textur und die Ausbreitung städtischer Infrastrukturen über die Grenzen des städtischen Raums hinweg zu vielfältigen politischen Konflikten, Verhandlungen und Exklusionen.
Die neue Grenze dieser anhaltenden Auseinandersetzung ist das Platforming planetarischer „Stadtlandschaften“ (anstelle von Landschaften). Das allgegenwärtige Betreiben digitaler Plattformen – nur der jüngste infrastrukturelle Akteur – gestaltet unser Leben und den Planeten, auf dem wir leben, radikal um. Es entstehen neue Orte der politischen Auseinandersetzung, um das Recht auf Stadt zu erwerben, und Infrastrukturen bieten die Möglichkeit, alternative (urbane) Bürgerschaftsmodelle auszuhandeln und zu gestalten. Was wir jetzt brauchen, ist eine neue Politik der Navigation in diesem Vortex.

Niccolò Cuppini ist Forscher an der Hochschule für Angewandte Technik und Kunst der Südschweiz. Seine Forschungen orientieren sich an einem transdisziplinären Ansatz in den Bereichen Stadtforschung, Geschichte der politischen Doktrinen sowie Logistik und soziale Bewegungen, Arbeitssoziologie und Plattformökonomie. Niccolò ist Teil der Forschungsgruppe Into the Black Box.