Mehr Parkplätze!

2021 Typ: Glossar

Beim Betrachten der Stadt passiert Ähnliches wie beim Augenspiel mit einem Vexierbild: Der eingeübte Blick spürt als erstes Figuren nach, die er bereits kennt. Von einem etablierten Bildeindruck kann man schlecht wieder loskommen, selbst wenn sich Fehler abzeichnen, Konditionen und Bedarfe verändern. Urbane Praxis wechselt stets die Perspektive auf das Städtische und stellt probeweise Bilder auf den Kopf.
Im Mannheimer Ordnungsamt ist ein Streit darüber entbrannt, ob Herr Kleeberg, passionierter Radfahrer und Angestellter der Hochschulverwaltung, mit seinem mobilen Gartenbeet auf einem Fahrradhänger einen städtischen Parkplatz belegen darf. Das einschlägige Argument der Stadtverwaltung gegen den „Falschparker“ lautete „Parkdruck“. Ein neues Parkstück in der Stadt ist nicht durch die Straßenverkehrsordnung geregelt, wieso eigentlich nicht? Schieben wir das Gartenmobil also ein Haus weiter, vom Straßenverkehrsamt zum Grünflächenamt. Wir hätten es ahnen können – das fahrende Grün trifft hier brüsk auf amtliche Unzuständigkeit; als Daten des Grünflächenkatasters können nur stehende Flächen erfasst werden.
Wie sich täglich an den Verschiebungen demografischer, sozialer, ökologischer und kultureller Koordinaten des Stadtkörpers beobachten lässt, reichen die tradierten Themenzuschnitte der Verwaltung nicht mehr aus. Die Fluidität und Verknüpfungen drängender Fragen verlangen nach Zusammenarbeit der Planungs- und Verwaltungsebenen, nach Wissenstransfer und Querverbindungen unter Expert_innen und nach Beteiligung aller Menschen, die Stadt aus/machen und gestalten.
Wie sieht das aus, das Neue, Mögliche? Die Urbane Praxis tickt künstlerisch: Mit Visualisierungen, Performances und „strukturellen Infektionen“ kann Gewohntes verschoben werden und Zukünftiges durchscheinen. Mit den bisherigen Regularien, Prüfverfahren und Planungstools wird sich der neue Lebensraum „Stadt“ nicht ausformen lassen. Stadtentwicklung, die bei der Retrospektive ansetzt, „so-wie-es-einmal-war“, wird grundlegende Fehler nur flicken und Problemzonen optimieren. Impulse aus dem In- und Ausland, Kooperationen und empathische Zusammenarbeit quer durch alle Amtsstuben sind jetzt hilfreich. Und Modellversuche, kreative Baustellen, neue „Figuren“ – eine forschende Urbane Praxis, die radikal ausprobiert und Unerwartetes setzt.

Barbara Meyer ist Leiterin des Kulturzentrums S27–Kunst und Bildung in Berlin Kreuzberg. Sie wuchs in der Schweiz auf und studierte Bildende Kunst. Im Jahr 2006 organisierte sie im Auftrag des Rates für die Künste die Kampagne OFFENSIVE KULTURELLE BILDUNG. Sie ist Mitglied im Berliner Flüchtlingsrat und Mitbegründerin der Initiative Urbane Praxis.