Niedrigschwellig

2021 Typ: Glossar

Kunst und Kulturinstitutionen gestalten ihre Angebote häufig für ein Publikum, das sich als bildungsnah und vielleicht sogar akademisch geprägt bezeichnen würde. In der Kommunikation dieser Angebote werden gerne altsprachliche Wortelemente genutzt (griechisch, lateinisch) oder neusprachliche Internationalismen zum Beschreiben aktueller Phänomene herangezogen. Die inhaltlichen – gerne als ‚diskursiv‘ oder ‚kritisch‘ bezeichneten – Themen dieser Angebote sind häufig abstrakt und vermeiden zu viel Nähe zu praktischen Alltagsfragen, um nicht als ‚banal‘ verurteilt zu werden. Die Angebote sind nicht selten auch für das Publikum schwer verständlich und trennen so auch innerhalb der Adressatengruppe den Weizen der Verstehenden vom Spreu der Unwissenden. Diese Form des Ausschlusses bzw. der Unterscheidung wird als soziale ‚Distinktion‘ bezeichnet und u. a. vom Soziologen Pierre Bourdieu ausführlich untersucht und beschrieben.
Wenn hingegen von ‚niedrigschwelligen‘ Angeboten die Rede ist, so ist häufig der Versuch gemeint, eine oben beschriebene Form der Exklusion zu vermeiden. In der Urbanen Praxis erfolgt dies über die Wahl der Inhalte, z. B. werden auch alltagsrelevante Fragen thematisiert, über die Form des Aufführungsortes jenseits der ornamentbefreiten Weißwandwelt und über die Art der Ansprache bzw. Sprachwahl. Weitere Attribute sind ‚bezahlbar‘, ‚unbürokratisch‘ sowie Anreizelemente wie Speisen und günstige Getränke.
Eine nachhaltige strukturelle Niedrigschwelligkeit kann erreicht werden, indem Entscheidungs- und Verantwortungsfragen für möglichst diverse Akteur_innen zugänglich gemacht werden. Hier bedarf es in der gegebenen administrativen Sprachkultur einer nicht unwesentlichen Übersetzungsleistung, die wiederum die Gefahr eines Machtgefälles in sich birgt.
Auch stellt die Vermittlung komplexer Inhalte, Praxen und Strukturen eine Herausforderung dar: Wie kann eine breite Zugänglichkeit aufrechterhalten werden, ohne allzu verkürzt oder gar populistisch daher zu kommen?
‚Niedrigschwellige‘ Formate können vor allem bei der Arbeit im öffentlichen Raum eine wichtige Vermittlerrolle spielen und Begegnung zwischen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Bildungschancen und Milieuzugehörigkeiten ermöglichen und so das Ideal einer diversen, integrierten und offenen Stadt erlebbar machen.

Matthias Einhoff ist Co-Direktor des Zentrum für Kunst und Urbanistik (ZK/U). Das ZK/U verbindet globale, urbane Diskurse mit einer lokalen, künstlerischen Praxis und fördert den wechselseitigen Wissensaustausch von Stadtmacher_innen über analoge und digitale Formate. Matthias ist leidenschaftlicher Ermöglicher kollektiver Prozesse.