Post-Pandemic Living

2021 Typ: Glossar

„Städte sind nicht nur Konstrukte aus Stein, Beton und Holz, sondern auch komplexe Zeichensysteme, die Auskunft über Lebensverhältnisse und Zeitgeist geben.“
Feireiss, Lukas, Schneider, Tatjana: ‚Living the City. Von Städten, Menschen und Geschichten’ 2020


Die Visionäre der Moderne waren unter anderem angetreten, Hygieneprobleme der immer größer werdenden Städte zu lösen. Die bestehenden Bebauungsdichten europäischer Innenstädte wurden zugunsten von mehr Licht und Luft aufgelöst, traditionelle Baumaterialien wie Holz und Stein wurden zugunsten von leicht zu reinigenden Oberflächen ausgetauscht, Glas und Stahl hielten Einzug in die allgemeine Baukultur.

Licht, Luft und Freiraum versprachen öffentlich und vielfältig nutzbare Räume im Herzen der europäischen Städte. In der Realität entwickelten sich jedoch vielerorts autogerechte Stadtmaschinen. Das urbane Leben musste mit der planerisch verordneten klaren Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr umstrukturiert werden. Ein von Mobilität und Logistik geprägter Alltag wurde der neue Standard; finanzieller Wohlstand ermöglichte für breite Gesellschaftsschichten das private Sportprogramm mit Fitnessrad oder manchmal auch Schwimmbad im eigenen Heim sowie die private Party im eigenen Hobbykeller. Neben der Freude und der Leichtigkeit des Seins hielten aber auch Vereinsamung und Vereinzelung Einzug in unsere Städte und eine zunehmende Entfremdung zum öffentlichen Raum entstand.

Ein Vorteil des städtischen Lebens ist die Vielfalt und Auswahl an verschiedenen Szenen und damit die Möglichkeit zum gemeinschaftlichen Handeln. Soziale Teilhabe, das Teilen und Organisieren von Projekten und Orten in der Stadt als Reaktion auf die ungebremste Privatisierung und verwertungsgetriebene Verknappung der Ressource Raum gewinnen zunehmend an Bedeutung. Flächenoptimierte Wohnkonzepte zu immer weiter steigenden Preisen bedingen, dass der private Raum um den gemeinschaftlich genutzten Raum erweitert werden muss. Wir arbeiten im Co-Working Space, treiben Sport im Fitnessstudio und im Park, teilen uns die dritten Räume in der Stadtbibliothek mit unseren Mitbürger*innen und spielen Klavier im Gemeinschaftsraum.

Die aktuelle Pandemie und die Angst vor Unvorhergesehenem haben das gemeinschaftliche Nutzen von Orten und das Teilen des öffentlichen Raums verändert: Der Co-Working Space wurde gegen das Home-Office eingetauscht, Fitness Apps regeln das individuelle Sportprogramm im eigenen Wohnzimmer, digitale Ausleihen versprechen sofortigen Lesespaß auf digitalen Readern im Wohnzimmersessel. Die Pandemie stellt die Frage, wie leistungsfähig gemeinschaftliche Formen von Wohnen und Arbeiten sein können.

Die Probleme der Moderne sind nicht verschwunden, sondern prägen maßgeblich unsere Formen des Zusammenlebens in den Städten. Auf der Suche nach post-pandemischen Wohn- und Arbeitsformen tauchen diese Probleme immer wieder auf: Die pandemisch gelebte Isolation verstärkt die Vereinsamung, ein höherer individueller Flächenverbrauch benötigt mehr Energie, fördert die Versiegelung des immer knapper werdenden Bodens und die fortschreitende Zersiedelung. Die Zersiedelung erhöht wiederum den Individualverkehr und damit Energieverbrauch und Emissionen.

Möge es uns in Zukunft gelingen, gemeinsam unsere Städte so weiter zu gestalten, dass wir nicht im rasenden Stillstand und allumfassend auf jede gesellschaftliche Veränderung blitzschnell eine marktkompatible Lösung entwickeln müssen, sondern durch Flexibilität und die Möglichkeit zur Teilhabe Orte und Räume schaffen, die auf eine Vielzahl an zukünftigen unbekannten Ereignissen reagieren können und das Leben in unseren Städten zu jeder Zeit angenehm und lebenswert machen.

Susanne Priebs/Christoph Schmidt