Prozess (offen)
Es heißt oft, dass die Vorstellungskraft grenzenlos sei. Ich bin nicht dieser Meinung. Die Vorstellungskraft hat durchaus Grenzen: Was wir uns vorstellen können, ist limitiert, weil unsere Fantasien immer mit unseren (psychischen oder professionellen) Erfahrungen zusammenhängen. Wenn wir die bedeutendsten Entdeckungen, Erfindungen oder künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeiten sowie ihre Entstehungskontexte untersuchen, erkennen wir schnell, dass die meisten der sogenannten ‚neuen‘ Ideen sehr eng mit etwas zusammenhängen, das in ihrer unmittelbaren Nähe existierte. Erst wenn Erfindungen und Innovationen jenseits ihrer unmittelbaren Kontexte und Diskurse zirkulieren, wirken diese Ideen möglicherweise so anders und radikal neu. Die meisten Künstler_innen und Wissenschaftler_innen werden jedoch dasselbe sagen: Wenn wir versuchen, unsere Vorstellungskraft zu steigern, werden wir vor allem bereits bekannte Konzepte, Fragen und Umstände mischen und neu kombinieren, um zu neuen Beziehungen und Figuren zu gelangen: Wir wiederholen etwas, machen es neu und gestalten es um. Wir verwenden das, was da ist und was wir schon kennen, und wir drehen und wenden, untersuchen, experimentieren, mischen, hinterfragen und verschieben es und nutzen unsere Intuition und Erfahrung, bis wir ein kleines Stück weitergekommen sind. Von dort ausgehend kann vielleicht etwas anderes gewusst und artikuliert werden als vorher. Oder vielleicht kann etwas Ähnliches erneut, auf neuartige Weise und in anderer Form gewusst werden, sodass dieses Wissen auf neuartige Weise wirksam wird.
Als Künstler_innen beginnen wir diese Tätigkeit meistens, ohne genau zu wissen, worauf sie letztlich hinausläuft – denn der entscheidende Punkt ist, dass wir es uns am Anfang selbst nicht genau vorstellen können. Anders gesagt, beginnen wir unsere Arbeit, ohne ein klares Ziel oder Ergebnis im Blick zu haben. Wir haben vielleicht eine Richtung, aber kein Ziel und schon gar kein Schicksal. Nennen wir es einen offenen Prozess: Wir treten mit Arbeitstaktiken und ‑strategien, Materialerfahrungen und ‑kenntnissen und im Rückgriff auf frühere Experimente, aber ohne klar definiertes Ergebnis in einen Erkundungsprozess ein. Eine Kernkompetenz von Künstler_innen ist die Fähigkeit, mit offenen Prozessen zu arbeiten – sie sind in der Lage, einen Arbeitsprozess zu beginnen, aufrechtzuerhalten und zu steuern, ohne bereits im Voraus genau zu wissen, was die Ergebnisse sein könnten.
Es ist allerdings offensichtlich, dass offene Prozesse nicht allein Künstler_innen und Personen zustehen sollten, die in der sogenannten Kreativindustrie arbeiten. Vielmehr ist es heute – angesichts der aktuellen politischen, wirtschaftlichen und insbesondere durch den Klimawandel ausgelösten Krisen – dringend nötig, imstande zu sein, die Grenzen dessen, was wir uns vorstellen können, ja die Grenzen des Vorstellbaren im Allgemeinen, zu erweitern. Nur, wenn wir auf der Realität und Notwendigkeit radikal offener Prozesse beharren, um uns etwas zu erschließen, das wir uns noch nicht vorstellen können, werden wir vielleicht beginnen, diesen Anforderungen gerecht zu werden.
Katya Sander