Quartier

2021 Typ: Glossar

Quartier des Trivialen

Kann ein Wort den Stadtraum entpolitisieren? Oder wenigstens unseren Blick darauf? Sprache wandelt sich, Wörter verändern ihre Bedeutung, werden verworfen, ersetzt oder, was eher ärgerlich ist, zu Worthülsen. Um welche Wörter müssen wir kämpfen? – Gemeinwohl. Welche können wir gar nicht mehr hören? – kreativ. Und welche Wörter schleichen sich in den Diskurs und werden uns nie gehören?
Das Quartier als Synonym für Stadtviertel ist in der deutschen Alltagssprache eher ungebräuchlich. Es ist ein Begriff der Bauträger, die in ihren Werbetexten neue, lebendige und kreative Quartiere anpreisen. Es ist ein Begriff der Verwaltung, wenn sie heute nicht mehr von Wohngebieten, sondern Wohnquartieren spricht; es ist Stadtentwicklung von oben wie im Quartiersmanagement.
Weil die neuen Berliner Innenstadt-Quartiere hauptsächlich aus breiten Einkaufsstraßen, touristischen Attraktionen, Bürogebäuden und Hotels mit dunklen Glasfassaden bestehen, fällt es schwer, dem Quartier die gleiche Bedeutung beizumessen wie den vertrauten Begriffen: das Viertel, in dem Du aufgewachsen bist, die Kiezkneipe in der Nachbarschaft, Dein Block, Deine Hood. Das Quartiersmanagement wiederum organisiert z. B. „[…]Partizipationstreffen, auf denen zwar mehr Experten als Anwohner anwesend sind, die aber dennoch als Momente der politischen Teilhabe lokaler Bevölkerung gefeiert werden. Oder Informationsveranstaltungen, auf denen die kritische Meinung der lokalen Bevölkerung auf die Meinung der hochqualifizierten und professionellen Planer trifft.“ (Mössner 2015, 308). Als Instrument der Depolitisierung in der neoliberalen Stadt beschreibt es Mössner und bringt die Kritik der Stadtgesellschaft am Quartiersmanagement gut auf den Punkt.
So ist der Alltagsbegriff von Quartier in Bezug auf Stadt entweder mit der Verwertung von Raum oder mit der Administration vom Mitgestaltungswillen ihrer Bewohner_innen verknüpft. Wenn wir aus Perspektive der stadt- und mietenpolitischen Bewegung fragen, welche Begriffe wir (wieder-)aneignen müssen, fragen wir doch auch, welche lieber nicht!
Mit dem Quartier verbindet die Erfahrung nichts Emanzipatorisches, keine Selbstermächtigung. Es bleibt ein Wort aus der Vogelperspektive, dem die politische Dimension der STRASSE fehlt: Als Ort der Begegnung und Unterschiedlichkeit, der Versammlung und des Protests.

Jenny Goldberg, Stadtteilbüro Friedrichshain, ist eine Berliner Raumaktivistin und interdisziplinäre Künstlerin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Methoden kollektiver Produktionsprozesse und insbesondere die Rolle soziokultureller Zentren als informelle Akteure der Stadtentwicklung. Seit 2020 moderiert sie die monatliche Radiosendung Fassadenfunk.