Raumaneignung

2021 Typ: Glossar

Raumaneignung als Raumproduktionen

In der zeitgenössischen Kunst kennt der Raumbegriff keine Grenzen. Der Raum hat längst seine physische Ausdehnung überwunden und ist selbst zum künstlerischen Material geworden; auch soziale Gefüge und Machtstrukturen werden heute unter dem Begriff des Raums gefasst – und zum Gegenstand künstlerischer Bearbeitung. Die historische Entwicklung hin zu einer Entgrenzung des Raums sowie der Künste stellt selbst einen Prozess von Raumaneignungen dar.
In der Kunst entwickelte sich der Raumdiskurs im 20. Jahrhundert; Künstler_innen erkundeten verschiedene Raumvorstellungen (u. a. Kubismus, Konstruktivismus) und mit Kurt Schwitters „Merzbau“ (ca. 1923) wurde der reale Raum selbst zur Kunst. Mit der konzeptuellen Verschiebung weg von einer Darstellung hin zu einer Herstellung von Raum übertrat die künstlerische Raumanalyse eine erste Schwelle.
Nach der Zäsur durch den 2. Weltkrieg begann in den 1940er und 1950er Jahren eine eingehende Beschäftigung mit dem Bildraum sowie den Bedingungen des Mediums Malerei und in Folge mit der Verfasstheit der physischen und institutionellen Räume der Kunst. Bald darauf verließ eine neue Avantgarde diese etablierten (Re-)Präsentationsräume, um ihre Arbeiten im eigenen Studio oder in verschiedenartigen öffentlichen Räumen zu zeigen – oder um selbst gänzlich neue Räume (und Orte) zu erschaffen.
Die Produktion von sogenannten Alternative Spaces und Lofts stellt eine zweite Form der Aneignung von Raum dar. Die genuin neuen künstlerischen Praktiken der 1960er und 1970er Jahren lösten gleichzeitig die Grenzen zwischen den Künsten auf und schufen diese neuartigen Formen von Arbeits-/Lebensräumen. Mit der Installationskunst entstand darüber hinaus eine raumgreifende Kunstform, die auch die „Betrachter_innen“ implizit körperlich involviert.
Diese Praktiken entstanden zeitgleich mit dem einsetzenden Paradigmenwechsel der räumlichen Wende (spatial turn), die realen Raum per se als sozialen Raum definiert. Ausgangspunkt dafür ist die Theorie der prozessualen Raumproduktion des französischen neomarxistischen Philosophen Henri Lefebvre. Der raumtheoretische Diskurs dazu etablierte sich jedoch erst in den 1990er Jahren in den Sozialwissenschaften, um nach der Jahrtausendwende disziplinübergreifend Einzug zu halten. Die zentrale These in Lefebvres Buch „La Production De L’Espace“ (1974) lautet, dass jede Gesellschaftsform ihren eigenen Raum produziert, der in einem fortwährenden wechselseitigen Prozess diese wiederum bedingt, sodass Raum (als eine Art Meta-Raum, der alle Konzeptionen von Raum umfasst, vom gebauten über den politischen bis hin zum Raum der Energieflüsse) immer als sozialer Raum verstanden werden muss. Im globalen Kapitalismus moderner Gesellschaften sei Raum darüber hinaus zwangsläufig urbaner Raum.
Zeitgenössische künstlerische Raumaneignungsstrategien umfassen legale sowie illegale Handlungen, temporäre Aktionen wie langfristige Planungen, große Setzungen aber auch poetische, ephemere Situationen, und arbeiten mit Innen- und Außenräume. Gemein ist ihnen, dass sie in das wechselseitige Verhältnis von Raumaneignung und Raumproduktion eingreifen. Während künstlerische Praktiken Prozesse initiieren, sind die daraus entstehenden Räume temporär und etwaige langfristige Effekte stets Ergebnisse von Aushandlungsprozessen, die nur bedingt künstlerisch formbar sind. Laut Lefebvre tragen sie jedoch das revolutionäre Potential in sich, die vorherrschende kapitalistische Raumproduktion in Frage zu stellen. So weist er der Kunst gar eine utopische Rolle zu: „On the horizon, then, at the furthest edge of the possible, it is a matter of producing the space of the human species―the collective (generic) work of the species―on the model of what used to be called ‘art’ […].“ (Lefebvre 1993, 422).

Friederike Schäfer ist Kunstwissenschaftlerin (FU Berlin; UoW, Seattle; Bard Graduate Center, NYC; HU Berlin; HfG Karlsruhe; COOP Design Research, Dessau) und forscht als Postdoc am EXC „Temporal Communities“ (FU Berlin) zu Ausstellungen zum Thema Anthropozän. Ihre Dissertation „Claiming Space(s). Locating Suzanne Harris’ Dance Practice and Ephemeral Installations within New York City in the 1970s“ (HU Berlin) erscheint 2022 bei De Gruyter. Sie realisiert interdisziplinäre Projekte (u. a. nGbK Berlin; Bauhaus Dessau; Badischer Kunstverein KA; Kunstverein Harburger Bahnhof, HH) und ist Mitbegründerin von CoCooN Berlin.