Reproduktiver Urbanismus

2021 Typ: Glossar

Reproduktiver Urbanismus, Urbane Reproduktion

Die historische Entstehung der Moderne nahm in Form der Urbanisierung materielle Gestalt an. Die auf den Ideologien des Rassenkapitalismus, des kolonialen Heteropatriarchats und des menschlichen Exzeptionalismus basierende Moderne drückte sich in den sozio-ökologischen Beziehungen aus, die durch die Steuerung der Städteplanung definiert und die Ökonomie des Bauens umgesetzt wurden. Dazu gehörte die Organisation von Arbeit, Wohnen, Mobilität, Bildungs-, Gesundheits- und Kultureinrichtungen sowie die räumliche Gestaltung des öffentlichen Lebens und der Freizeit.
Die baulichen, materiellen und räumlichen Prozesse der modernen Urbanisierung basierten auf den Paradigmen von Produktion, Wachstum, Innovation und Fortschritt. Folglich sind diese Paradigmen zu einer Selbstverständlichkeit für das geworden, was als wichtig für Städte und die urbane Transformation gilt: Städte müssen wachsen, produktiv, innovativ und fortschrittlich sein.
Seit den Anfängen der Moderne lenken feministisches politisches Denken und Aktivismus die Aufmerksamkeit darauf, dass die für das Leben und Überleben wesentliche spezifische Arbeit durch die herrschenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen prekär gemacht wurde. Durch diese Strukturen wurden die lebensgestaltenden Praktiken abgewertet und diejenigen, die diese Arbeit verrichteten, unfrei und abhängig gemacht, ausgebeutet und von der vollständigen Teilhabe am politischen, sozialen und kulturellen Leben ausgeschlossen. In Anlehnung an das Marx’sche Denken ist diese Arbeit eine reproduktive Arbeit.
Das Überleben der Städte als Ganzes hängt von der urbanen reproduktiven Arbeit ab, kurz gesagt, von der urbanen Reproduktion. Diese Arbeit ist heute weltweit abhängig von Klasse, Geschlecht, Rasse und Sexualität. In sämtlichen Städten erhält die sozio-ökologische Reproduktion Leben, Umwelt sowie physische, technologische oder digitale Infrastrukturen aufrecht. Urbane Reproduktion ist auf allen Ebenen und zu allen Zeiten erforderlich, um das Leben der Stadtbewohner_innen zu erhalten und die Infrastruktur der Städte am Laufen zu halten. Der gegenwärtige und künftige wirtschaftliche und politische Wandel muss daher von der Interdependenz der Reproduktion ausgehen. Nur wenn der Wert der urbanen Reproduktion politisch und ökonomisch in den Mittelpunkt gestellt wird, können sich die Bedingungen für diejenigen verändern, die die urbane Reproduktion leisten.
Die Urbane Praxis kann durch Forschung zu dieser Umkehr beitragen, indem sie die materiellen, ökologischen und immateriellen Dimensionen der Orte als reproduziert versteht. Die historische und zeitgemäße Erforschung der materiellen, ökologischen, infrastrukturellen und immateriellen urbanen Reproduktion von Orten kann dazu beitragen, Städte aus dem Blickwinkel der Reproduktion zu verstehen. Einige Standorte werden besser gepflegt, andere sind durch strukturelle Nachlässigkeit und mangelnde Investitionen in die urbane Reproduktion zu prekären Orten geworden. Und die Urbane Praxis kann dazu beitragen, die urbane Reproduktion zu verändern, indem sie diese wichtige Arbeit auf eine andere Art und Weise mit all jenen leistet, die Teil der Orte sind, an denen die Urbane Praxis sichtbar wird und stattfindet.

Dr. Elke Krasny ist Professorin für Kunst und Pädagogik und Leiterin der Abteilung für Kunstpädagogik an der Akademie der bildenden Künste Wien. Die Ausstellung und der Sammelband „Critical Care. Architecture and Urbanism for a Broken Planet“, 2019 kuratiert und herausgegeben zusammen mit Angelika Fitz, führt eine Care-Perspektive in der Architektur ein, die sich mit den anthropozänen Bedingungen der globalen Gegenwart auseinandersetzt.