Site

2021 Typ: Glossar

Site [engl. Ort, Standort, Schauplatz] ist in jeder Größenordnung wichtig, vom planetarischen bis zum kleiner-als-ameisengroßen Maßstab. Bewohnbarkeit, Lebensqualität und das Überleben vieler verschiedener Arten, die Spezies Mensch inbegriffen, sind nicht zu trennen von der Verfügbarkeit von Sites und davon, wie sorgsam mit ihnen umgegangen wird, um das Wohnen, Leben, Überleben und selbstverständlich auch Gedeihen zu ermöglichen. Sites und ihre Ökologien haben einen erheblichen Einfluss darauf, wie menschliche und nicht menschliche Wesen ihr Leben führen können. Sites sind wichtig für urbane Praktiken des Erinnerns. Sites sind wichtig für das öffentliche Leben, das politische und kulturelle Leben und die Freizeit inbegriffen. Sites sind wichtig für Mobilität und Zugang. Sites sind wichtig für das Klima und die Umweltverschmutzung von Städten.

Die Transformation von urbanem Grund und Boden beruht auf der Definition und Abgrenzung von Sites. Sites, verstanden als ein Stück Land und als Grundstück, werden handhabbar. Das Site-Denken, das heißt ein Denken, das auf der Logik der Site beruht, hat es historisch ermöglicht, dass urbaner Grund und Boden gemanagt, reguliert, organisiert und geplant werden kann. Durch das Site-Denken fand der urbane Grund und Boden auch Eingang in die Staatswirtschaft und Marktwirtschaft. Der ökonomische Wert von Sites wird definiert durch miteinander verknüpfte Spekulations‑, Investitions‑ und Nutzungsinteressen, die sich in langfristiger Instandhaltung und Pflege widerspiegeln. Der Wert von Sites hängt vom Zusammenspiel vieler unterschiedlicher Faktoren ab.

Der ökologische, infrastrukturelle, kulturelle, ästhetische oder politische Wert von Sites muss in Relation zum Einfluss der Wirtschaftsordnung eines gegebenen historischen Zeitpunkts verstanden werden. Doch obwohl diese Werte, die von den Stadtbewohner*innen formuliert und praktiziert werden, in Relation zu ökonomischen Machtverhältnissen verstanden und erforscht werden müssen, werden sie von Letzteren nicht vollständig und ausschließlich definiert. Wenn Werte auf ökonomische Werte reduziert werden, perpetuiert dies die Logik des neoliberalen kapitalistischen Würgegriffs, in dem sich der urbane Grund und Boden und damit urbane Sites befinden.

Da sich der Wert von Sites im Lauf der Zeit ändert, lässt sich die Stadtentwicklung und urbane Transformation anhand der spezifischen Auswirkungen auf eine Site, aber auch anhand der spezifischen Veränderungen untersuchen, die zu veränderten Beziehungen zwischen Sites und ihren wechselnden Communities und Nutzer*innen führen.

Sites als Ort und Fokus urbaner Praxis sind Theorieobjekte, die verdeutlichen, dass die urbane Praxis ein höchst interdisziplinäres Feld ist, das je nach Fokus erfordert, viele unterschiedliche Arten von Wissen zusammenzubringen – für andere Formen von Praxis ebenso wie für eine andere epistemische und politische Herangehensweise an Sites. Der Begriff Site kam in kunsthistorischen und kunsttheoretischen Analysen künstlerischer Praktiken auf, die sich seit den 1960er Jahren entwickelt haben. Der theoretische Begriff kann als Reaktion auf die damaligen Arbeitsweisen der Künstler*innen verstanden werden, da diese ihre Ateliers verließen und ihre Praxis zu einem Teil urbaner Sites machten; sie begannen nicht nur, andere ästhetische Praktiken zu entwickeln, sondern machten diese Praktiken zu einem Teil des urbanen Lebens und der urbanen Transformation.

Site Specificity [Ortsspezifik] hat trotz der wegweisenden Untersuchung von Miwon Kwon keinen weitreichenden Einfluss auf andere Disziplinen ausgeübt, die für die urbane Praxis relevant sind. Zu diesen Disziplinen gehören unter anderem Stadtforschung, Alternative Ökonomien, Affektstudien, Environmental Humanities, Biologie, Digital Humanities, Stadtplanung und Politikwissenschaft, Gender Studies, Postcolonial Studies, Gedächtnisgeschichte, Stadtgeschichte oder Öffentliches Gesundheitswesen. Umstrittene und konfliktreiche Geschichten und ihre Implikationen für urbane Praktiken, darunter auch die komplexen, oft unsichtbar gemachten und zum Verstummen gebrachten Geschichten über Extraktion, Ausbeutung, Enteignung oder Toxizität sind für das Verständnis der Spezifik einer Site grundlegend.

Keine Site ist unschuldig. In der Stadtforschung sind Site Visits (Ortstermine) seit Langem ein Standardverfahren. Um den Begriff Site Visit zu erweitern, argumentiere ich hier, dass das spezifische Verständnis einer Site in all ihren physischen und umweltspezifischen, historischen und emotionalen, ökonomischen und ästhetischen Dimensionen, um nur einige wichtige zu nennen, hinreichend verdeutlicht, dass die Begehung eines Ortes, um ihn zu verstehen und zu theoretisieren, nicht allein darin bestehen kann, einfach vor Ort zu sein, auch wenn dies selbstverständlich von entscheidender Bedeutung ist. Site-spezifische urbane Praktiken müssen multidisziplinär sein sowie Kenntnisse und Auffassungen erweitern, um beim Praktizieren mit urbanen Sites „response-able“ (Donna Haraway), das heißt resonanzfähig zu werden.

Elke Krasny ist Professorin für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien. Sie forscht zu ökologischer und sozialer Gerechtigkeit in der globalen Gegenwart, mit Schwerpunkt auf der Politik der Interdependenzen und der Entstehung eines Care-Feminismus im 21. Jahrhundert.