STRESS + STRASSE

2021 Typ: Glossar

Als ich vor vierzehn Jahren in meine Wohnung zog, war ich sicher, sie würde eine Zwischenstation sein. Vielleicht lag es an den Niedrigdecken, dem dottergelben Wandanstrich oder den sparsamen, quadratischen Fenstern; jedenfalls fühlte sie sich ungewohnt an. Nach Rückschritt oder einem viel grundlegenderen Umzug, als ich ihn vorgehabt hatte.
Doch ich mochte die Bedingungen der Wohnung. Die großen Zimmer lagen nach Südost, die Fenster zeigten nichts als Licht und freien Himmel.
Dann wechselten die Blätter die Farbe, die Häuser die Besitzer, die Wohnungen die Preise und ich, ich strich die Wände in sanfteren Tönen.
Das war, als der Wohnungsmarkt einfror und der lange Winter der Spekulation begann.
Heute kitzeln meinen Aussichtshimmel hochgewachsene Baumkronen. Darunter liegt eine veränderte Stadt.
Doch verlasse ich meine Wohnung und spaziere in der Stunde der einsetzenden Dämmerung über die Kottbusser Brücke, dann werde ich immer noch oft von Aufregung erfasst. Eine Erregung, die Geschehnisse und Anwesende zusammennimmt und mit der gebauten Umgebung verwebt. Zwischen aufflammenden Lichtern, eiligen Passant_innen, aufgeschreckten Taubenschwärmen und blinkendem Feierabendverkehr entspinnt sich eine Welt der Möglichkeit, die kaum zur Mittagszeit aufscheint. Es ist die Stunde der unverhofften Begegnung, der mischenden Sphären, die Stunde des Unfalls und des Zusammenstoßes, der Kakophonie und der sehnsüchtigen Unruhe – es ist die vielleicht städtischste Stunde von allen.
Nur wenige Schritte bis zum Dreh- und Angelpunkt meines Lebens, es hat sich über die Jahre im 5 Minuten-Radius des Kottbusser Tors gehalten. Meine vorherige Wohnung lag gleich direkt dahinter, neben einer für ihren Uringeruch berüchtigten Gasse. Für einige Jahre war sie zum Mekka internationaler Street Art aufgestiegen, junge Menschen und Art-Directors pilgerten hierhin, Models posierten vor grindigen Betonmauern und codierten Schriftzügen. Heute scheint das niemals passiert zu sein, eine Adelung flüchtiger als der Sonnenuntergang.
Vom Balkon des Wettbüros lässt sich der Platz gut überschauen. Während sich unten eilende Angestellte und Wohnungslose, Ausgegrenzte und Nachtschwärmer_innen, Geflüchtete und Expats, Urberliner_innen und Tourist_innen, Kulturelite und Proletarier_innen, Queers und gläubige Muslim_innen, Dealer und Polizei zum Kollektiv der Straße mischen, türmen sich über diesem Ort und denen, die ihn ausmachen, soziale Widersprüche, soziale Debatten und nochmal darüber – noch etwas zugreifender, noch etwas drohender – allgegenwärtige Kapitalinteressen.
Ein letztes Mal leuchtet nun der Himmel auf, taucht den trotzigen Fleck in ein fremdes, überwältigendes Licht. Es mag aus Damaskus, Addis, Moskau herüberscheinen oder von dort hinten, der vergessenen Passage. Jedenfalls von dort, wo die Stadt auch Wohnraum ist und das geteilte Leben nicht ganz aus ihr verbannt.
Was aus dem Stress der Straße leuchtet, ist das Licht der Möglichkeit.
Mitten im Winter, eine Ahnung von Frühling.

Die 1979 in Khartum/Sudan geborene Autorin Elisa Aseva lebt und arbeitet in Berlin. Seit Jahren veröffentlicht sie poetische und politische Betrachtungen auf Facebook und anderen digitalen Medien. Asevas autofiktionale Kurztexte bedienen sich auch essayistischer und lyrischer Formen und finden in diesem Nebeneinander zu kaleidoskopischer Ordnung. 2021 erschien ein Sammelband mit ihren Arbeiten unter dem Titel „ÜBER STUNDEN“ im Weissbooks Verlag.