Versammlung

2021 Typ: Glossar

Die öffentliche Versammlung gilt als eine Bedingung für die kollektive politische Auseinandersetzung in und mit der Stadt. In den unterschiedlichen Ausformungen von der historischen Pariser Kommune vor 150 Jahren über den Gezi Park in Istanbul, die Besetzung des Syntagma Platzes in Athen oder die Asambleas in spanischen Städten, von der weltweiten Occupy-Bewegung bis zum Refugee Camp auf dem Kreuzberger Oranienplatz werden in Versammlungen Fragen nach Teilhabe an Stadt und Gesellschaft verhandelt.
Durch die Aneignung der Straßen und Plätze, das Besetzen oder Bewohnen und die Bewegung der Körper im urbanen Raum, die spezifischen Sets von Alltagspraktiken und temporären Architekturen werden gleichermaßen die Normen der politischen wie der urbanen Landschaft in Frage gestellt, unterwandert und suspendiert. Versammlungen lassen sich als infrastrukturelle Materialität, als Archiv politischer Positionen und als Methode der sozialen Organisation beschreiben.
Versammlungen im öffentlichen Raum transformieren die Straßen und Plätze zu einer für alle sichtbaren Bühne für Forderungen und „verwandeln sie in temporäre Orte städtischer Bürgerschaft“ (Lanz 2015). Eine Versammlung stellt einen temporären Raum dar, in dem das Recht zu sprechen und gehört zu werden verhandelt wird. In Anlehnung an Engin Isins lassen sich diese alltäglichen, performativen Handlungen und kollektiven Aneignungen von öffentlichen städtischen Räumen als einen „act of citizenship“ beschreiben.
Fragen nach urbaner Praxis verknüpfen sich mit den Debatten der Versammlung: Was sind die Voraussetzungen für Versammlungen, was sind die Orte, Regeln und Wirkungen? Was sind kulturelle und körperliche Praktiken der Versammlung? Wer ist dort sichtbar und hörbar, wer eher nicht? Wie werden Entscheidungen getroffen? Wie manifestiert sich Politik? Wer repräsentiert wen? Wie lassen sich Versammlungen gestalten und inszenieren? Und schließlich auch: Welche Rolle spielen städtische Institutionen, unter welchen Bedingungen und in welchen Formen entwickeln sich Versammlungen im öffentlichen Raum zu politischen Akten, die die Stadt verändern?

Kathrin Wildner forscht als Stadtethnologin zu Theorien des öffentlichen Raumes, ethnographischen Methoden und transnationalen Aspekten von Urbanismus. Von 2012–2021 war sie Professorin im Fachbereich Kultur der Metropole an der HafenCity Universität Hamburg, hier u. a. im Leitungsteam des Graduierten kollegs Performing Citizenship. Sie ist Gründungsmitglied der Gruppe metroZones – Zentrum für städtische Angelegenheiten und Ko-Kuratorin der Ausstellung „Mapping Along. Ränder des Widerstreits aufzeigen“ (Berlin 2021).