Von Sinnen

2021 Typ: Glossar

Warum wird ein alltäglicher Besuch der Großsiedlungen und speziell der „die Platte“ genannten DDR-Variante als wenig reizvoll erachtet? Sind die von industriell gefertigten Wohngebäuden geprägten Stadtareale wirklich ohne Reiz? Was wäre, wenn sich die Nervenzellen langweilen?
Sensorische Deprivation gehört zu den Foltermethoden, die keine offensichtlichen Spuren an den Opfern verursachen. Dies wird durch eine größtmögliche Abschirmung der Sinnesorgane perfektioniert. Nicht benutzte Nervenzellen drohen zu verkümmern und benötigen ständige Stimulation – sonst fangen sie an, sich mit sich selbst zu beschäftigen und irreale Sinneseindrücke zu produzieren. Die inneren Bilder, die sich als Halluzinationen bemerkbar machen, bemerken wir normalerweise nicht, da wir ständig mit anderen Dingen beschäftigt sind. Länger andauernde sensorische Deprivation als Entzug von Sinneseindrücken kann zu Persönlichkeitsveränderungen, psychischen Schäden oder Schwierigkeiten im Kontakt mit anderen Menschen führen.
Die Beraubung der Sinne ist der Zustand der Reizverarmung. Laut dem Arbeitsblatt ‚Deprivationsprophylaxe‘ ist eine Person „depriviert, wenn ihre objektiven (sozio-ökonomischer Status, soziale Eingebundenheit, Gesundheitszustand) und subjektiven Lebensumstände (physischer bzw. psychischer Zustand, zwischenmenschliche Beziehungen, Berufszufriedenheit, Freizeitgestaltung) schlecht sind“. Als Maßnahme zur Deprivationsprophylaxe gälte es also, „eine möglichst reizvolle Umgebung zu schaffen. Abwechslung schafft Reize“.
Der Reiz ist weniger eine Frage der Ästhetik denn der Sinnlichkeit. Die vermeintliche „Hässlichkeit“ von Großsiedlungen – so zeigt ja die kultische Begeisterung für das „Plattenbauquartett“ oder die neuerliche Euphorie für den „Brutalismus“ genannten Baustil vor allem der 1970er Jahren – ist wandelnden Konjunkturen des Geschmacks und der Bewertungen unterworfen. Doch die Sinnlichkeit, die Komplexität und die Ausstrahlungskraft eines Gebiets hängt von vielen Faktoren ab.
Ohne gesellschaftliche Fragen auf ein Krankheitsbild reduzieren zu wollen, scheint das Einzugsgebiet von Pegida, AfD oder NSU zumindest der sensorischen Gesundheit nicht förderlich zu sein. So zumindest legte es die Ausstellung ‚Winzerla – Kunst als Spurensuche im Schatten des NSU‘ des Künstlers Sebastian Jung nahe. Der in Jena lebende Künstler wuchs in der gleichen Vororts-Großsiedlung wie die NSU-Kader Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe auf und begegnete bis zu dessen Gerichtsverhandlung 2012 dem inzwischen verurteilten NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben im Alltag.
Sebastian Jung beschreibt den alltäglichen Terror normativer Reduktionen wie folgt: „Da unsere Wohnung im Erdgeschoss lag, konnten meine Eltern vor dem Balkon viele Gewächse anpflanzen. Darunter ein ansehnlicher Flieder. Als wir eines Tages nach Hause kamen, war er abgesägt. ‚Wenn ich auf dem Balkon mein Honigbrötchen esse, möchte ich nicht von irgendwelchen Bienen gestört werden.‘ So der Nachbar, der ihn absägte.“ Über den homogenisierenden Schulunterricht heißt es: „In der ersten Klasse kam die Mathelehrerin zu mir und sagte vorsichtig, während ich das Heft mit Zahlen versah: ‚Das ist ja sehr schön, aber willst Du nicht vielleicht versuchen, die Zahlen in die Kästchen zu schreiben?‘ Diese Überlegung war für mich in der Tat neu.“ In seinen einfach gehaltenen, kindlich wirkenden Zeichnungen und beiläufigen Schnappschüssen von Kindheitserinnerungen an Winzerla brechen die alltäglichen Zumutungen in einer Kombination aus baulichen und sozialen Mustern wieder hervor.

Jochen Becker (Berlin) arbeitet als Autor, Kurator und Dozent und ist Mitbegründer von metroZones | Center for Urban Affairs und der station urbaner kulturen/nGbK. Zuletzt kuratierte er Chinafrika. under construction und entwickelte am Düsseldorfer Theaters FFT das Projekt Stadt als Fabrik und Place Internationale (2017-21) sowie die metroZones-Ausstellung Mapping Along (Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Berlin, 2021). Er ist aktiv in der Initiative Urbane Praxis und bereitet hierfür den zweiten Kongress SITUATION BERLIN vor.