Was sind legitime Gründe für die Behauptung einer Identität?

eine poetische intervention
von emet ezell
2024


Jedes Jahr konvertieren mehr und mehr weiße Deutsche zum Judentum. Sie färben sich die Haare braun. Sie hängen sich jüdische Sternketten um den Hals. Sie ändern ihren Namen in Rachel, in Hannah, in David, in Nathan.


„Jew-facing“*: Deutsche, oft mit Nazi-Erbe und manchmal mit fabriziertem Ahnengemunkel, die versuchen, als jüdisch durchzugehen, entweder durch formale Konversion oder einfach durch Vortäuschung. 


Dieses Phänomen betrifft das ganze politische Spektrum. Deutsche von der Rechten wie von der Linken lieben es, ein jüdisches Gesicht zu zeigen. Aber man kann nicht aus einer Abstammungslinie heraus konvertieren. Geschichte ist eine durchlässige Sache, aber sie ist nicht formlos. Sie ist nicht ohne Implikationen.


Was sind legitime Gründe, eine Identität zu beanspruchen? Wer entscheidet darüber?


Oft wollen diese weißen Deutschen mehr als nur konvertieren. Sie wollen Macht. Sie wollen im Namen aller jüdischen Menschen sprechen. Sie wollen eine moralische Berechtigung und einen exotischen Nervenkitzel.


Wenn man zum Judentum konvertiert, tut man dies, um sich einer jüdischen Gemeinschaft anzuschließen. Aber was ist eine Konversion, wenn die Gemeinschaft völlig dezimiert wurde?

In Deutschland ist die jüdische Konversion ein Karrierebeschleuniger. Viele deutsche Konvertiten bewerben sich um jüdische Stipendien und sitzen in den Vorständen von jüdischen Stiftungen, Synagogen und Kunstinstitutionen. In ganz Deutschland werden akademische Positionen im Bereich der Judaistik von deutschen Konvertiten besetzt, von denen viele eine zionistische Apartheid-Agenda verfolgen.


Je mehr ich mit anderen über das Phänomen des „Jew-facing“ in Deutschland spreche, desto mehr verstehe ich seine geopolitischen Implikationen. Reale soziale, kulturelle und materielle Ressourcen stehen auf dem Spiel. 


Für weiße Deutsche bleibt das Jüdischsein eine extrahierbare und wertvolle Ressource: ein instrumentalisiertes Kostüm. Ein Kostüm, das es den Deutschen erlaubt, ein Jüdischsein nach ihrem eigenen Bild zu schmieden.


Im heutigen Deutschland dienen Konvertiten zum Judentum oft einer liberalisierten Agenda. Diese ermöglicht es dem Staat, sich zur Erneuerung einer bestimmten Art von jüdischem Leben zu beglückwünschen, einem, das von Geschichte und religiöser Praxis losgelöst ist. In einer kranken Umkehrung des Völkermords bleibt die deutsche Konversion zum Judentum kolonial: ein Bedürfnis, Jüd_innen zu besitzen, sie zu kontrollieren, für sie zu sprechen und nun selbst zu ihnen zu werden. 


Was sind legitime Gründe, eine Identität zu beanspruchen? 


Lange vor Israels Völkermord** in Gaza hat Deutschlands Hinwendung zum Jüdischsein dazu geführt, das Palästinenser_innen brutal unterdrückt und zum Schweigen gebracht werden. In den letzten Monaten hat dies noch zugenommen, indem die Berliner Polizei palästinensische Aktionen, Veranstaltungen und Konferenzen verboten hat.


Die Zensur und Repression in Deutschland erfolgt oft unter dem hochtrabenden Vorwurf des Antisemitismus. Aber wer definiert Antisemitismus in Deutschland?


Die Solidarität mit Palästina ist für mich und viele andere Jüd_innen eine grundlegende politische Priorität. Das Phänomen der deutschen Konvertiten und ähnlicher Hochstapler_innen erschwert den Aufbau echter Solidaritätsnetze zwischen Jüd_innen und anderen Gruppen, die einen Völkermord erlebt haben oder ihm ausgesetzt sind.


In vielerlei Hinsicht ähnelt „Jew-facing“ einem ähnlichen Phänomen in Nordamerika, einem Kontext, mit dem ich mich besonders gut auskenne, da ich in den Vereinigten Staaten aufgewachsen bin.


Jedes Jahr beanspruchen mehr und mehr Weiße in den USA und in Kanada durch DNA-Tests ein indigenes Erbe. Unter dem Deckmantel der „Wissenschaft“ (die in ihrem biologischen Determinismus auf unheimliche Weise eugenisch ist) können diese Weißen die indigene Herkunft instrumentalisieren. Unter dem Vorwand der Abstammung sichern sie sich Stipendien, Stammeszugehörigkeit, berufliche und künstlerische Positionen.


Die Professorin und Forscherin Kim TallBear stellt fest, dass diese Menschen oft eine „Identität ohne Beziehung“ suchen. Wie ein Bumerang zwischen den Stolpersteinen fliegen mir ihre Worte wieder zu: Identität ohne Beziehung. 

Ich verstehe mein eigenes Jüdischsein als einen Akt der Integrität gegenüber meinen Vorfahren und meiner Kultur. Wenn ich eine Synagoge in Berlin betrete, einen angeblich jüdischen Raum, bin ich von blonden Haaren und blauen Augen umgeben. Keiner im Raum weiß, wie man betet. Neben mir krächzt eine Frau in hohem Sopran. Ich möchte mich zu ihr beugen und ihr ins Ohr flüstern: So singen wir nicht! Als Juden getarnt, dringen Deutsche in den jüdischen Raum ein und zensieren jüdische Äußerungen. Die parasitäre Beziehung zwischen Deutschen und dem Judentum bleibt bestehen.

Der Kolonialist will alles, sogar die Rolle des Opfers. Und der Kolonialist wird alles tun, um sie zu erlangen - war das nicht schon immer seine Art?

Doch die Opferrolle kann nicht der einzige Weg zur kulturellen, sozialen oder politischen Teilhabe sein. Wir müssen andere Wege des Zusammenseins, andere Netze der Solidarität schmieden.

Die Anishinaabe-Autorin Patty Krawec schreibt: 


„Wenn wir Legitimität nur durch Opferrollen beanspruchen können, dann haben wir die Fähigkeit verloren, echte, politische Antworten auf echte, politische Probleme zu finden.“


Wir verlieren unsere Fähigkeit, zu reagieren. 


Wie können wir uns als Künstler_innen, Kurator_innen und Kulturarbeiter_innen außerhalb dieses ausbeuterischen Rahmens der Opferrolle organisieren? Was kann uns inmitten so vieler Schichten der Täuschung leiten?


Ich möchte einen Begriff verwenden, den ich bei Krawec gelernt habe und der mir geholfen hat, mich in diesem verworrenen Netz von Beziehungen zurechtzufinden. Der Begriff ist kulturelle Souveränität: die Fähigkeit einer kulturellen Gruppe, sich selbst zu definieren, zu bestimmen und zu regieren. 


Die Stärke dieses Konzepts liegt für mich darin, dass es die Anziehungskraft weg von der persönlichen Identität und hin zur kollektiven Macht verlagert. 


Das Nachdenken über und mit kultureller Souveränität erzwingt eine Konfrontation mit den fragwürdigen Methoden, mit denen die hegemoniale – in diesem Fall deutsche – Macht funktioniert. 

Zensur, Sündenbocksuche, Protestverbote und Sprachauslöschung: Wessen Stimmen werden gehört und wessen Stimmen werden zum Schweigen gebracht? Welche Freiheitskämpfe werden als legitim und dringend angesehen und warum?

Statt Repräsentation zu fetischisieren oder zur Waffe zu machen, müssen wir überlegen, wie sich unsere kuratorischen Entscheidungen auf marginalisierte Gruppen und größere gesellschaftliche Narrative auswirken. Wie können wir die Schichten der Täuschung in Echtzeit durchschauen?


Wenn kulturelle Souveränität ein Leitwert in kuratorischen Entscheidungsprozessen wäre, könnte sich vielleicht das feste Standbein der deutschen Konvertiten verändern.


Dieser Text ist ein Auszug aus einem größeren lyrischen Essay und bleibt eine poetische Intervention, die auf persönlichen Erfahrungen und Forschungsergebnissen beruht.

Literaturhinweise:

  1. Krawec, Patty.  Becoming Kin: An Indigenous Call to Unforgetting the Past and Reimagining our Future. Minneapolis: Broadleaf Books, 2022. 

  2. Tallbear, Kimberly. Native American DNA: Tribal Belonging and the False Promise of Genetic Science. Minneapolis: University of Minnesota Press, 2013.   

  3. Tzuberi, Hannah. “’Reforesting’ Jews: The German State and the Construction of ‘New German Judaism,’“ Jewish Studies Quarterly, Issue 27, Vol. 3, 199-224. 

  4. Tzuberi, Hannah. “When the State Converts: Identification and Moral Panic in Contemporary Germany,” Association of Jewish Studies: 53rd Annual Conference, December 17-21, 2021. 

* Siehe die englischsprachige Wikipedia: „Jewface ist ein Begriff, der stereotype oder unauthentische Darstellungen jüdischer Menschen negativ charakterisiert. Der Begriff existiert seit den späten 1800er Jahren und bezieht sich im Allgemeinen auf das dargestellte Jüdischsein.“

** Anm. d. Red/nGbK: Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung befindet sich Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof in einem Verfahren, in dem es sich gegen den Vorwurf Nicaraguas verteidigt, an einem Völkermord im Gazastreifen beteiligt zu sein. Im Fall Südafrika gegen Israel hat der Internationale Gerichtshof am 26. Januar 2024 Israel aufgefordert, alle Maßnahmen zu ergreifen, um Handlungen zu verhindern, die als Völkermord im Sinne der Völkermordkonvention von 1948 angesehen werden könnten.

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