Aktivismus

2024 Typ: Wissensspeicher

Schon die Gründung der nGbK 1968/69 kann als eine Form von Aktivismus verstanden werden – im Sinne eines Aktiv-Werdens und des sich selbst Organisierens aus der Unzufriedenheit mit dem Programm und der Verfasstheit der 1965 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Bildende Kunst (DGBK) in Berlin, aus deren Spaltung die nGbK und der n.b.k. hervorgingen. 1 Die basisdemokratische Struktur der Institution ist bereits ein politisches Statement, um Hierarchien zu vermeiden. Das politische Selbstverständnis öffnete den Verein zudem für ein Programm, das sowohl aktivistische Kunstpraxen dokumentierte und ausstellte, als auch immer wieder zu Aktionen aufrief und politisch Stellung bezog. Das Spektrum der Arbeiten, die dabei in den Blick genommen werden, reicht „von Arbeiten mit klarem politischen Auftrag im Sinne des Agitprop bis zu komplexen Reflexionen über die repräsentative Funktion von Kunst, von radikalen Einzelpositionen bis zur Negierung der Autorschaft bei der Herstellung kollektiver Arbeiten,“ 2 wie Jule Reuter im Katalog zu Goodbye London – Radical Art and Politics in the Seventies ausführt.

Ein paar Beispiele: 1973 wird eine Solidar-Kunst-Auktion zugunsten des kämpfenden chilenischen Volkes organisiert. 1987 findet eine Ausstellung mit dem Titel Schlaglichter – Schlagstöcke. Aktionsraum Straße statt, die anhand „von Fotos, Videos und Installationen die Happenings der vielen bekannten und unbekannten Künstler“ dokumentiert, die die Straße als Aktionsraum genutzt haben. 3 Was hier als „Happenings“ bezeichnet wird, sind Demonstrationen und Ausschreitungen, auf die mit Polizeigewalt reagiert wurde. 1991 findet ein Aktionstag zum Paragrafen 218 in Form eines eintägigen Trainings-Aktions-Camps statt, das von der nGbK mitorganisiert wird.

Die Ausstellung LOVE AIDS RIOT SEX mit dem Untertitel Kunst Aids Aktivismus im Jahr 2013 „konzentriert sich auf die Zeit von 1987 bis 1995, eine Zeit größter Verzweiflung und massiver Entrüstung in der Aids-Krise.“ 4 Ihr Ziel ist es, den Kampf um Sichtbarkeit und den politischen Aktivismus der damaligen Bewegung ein Forum zu geben. So schildert die US-amerikanische Künstler_innengruppe Gran Fury in ihrem Publikationsbeitrag die Aktivitäten der Aids Coalition to Unleash Power (ACT UP), die sich 1987 gründete: „Mit einer Reihe von Medien wie T-Shirts, Stickern, Bannern, Plakatwänden, Bus- und U-Bahn-Schildern und Fernsehspots versuchten wir, zu kollektiver Aktion zu inspirieren, die öffentliche Wahrnehmung von Aids zu verändern und auf die Politik der Regierung einzuwirken. […] Wir bedienten uns ausschließlich der öffentlichen Aktionsform. […] Wir nutzten die Sprache der Werbung. […] Unsere Wirkung wurde durch Kunstinstitutionen, die uns Raum und Gelegenheit für Projekte anboten, stark erweitert.“ 5

Nach Astrid Wege zeichnet sich eine aktivistische Vorgehensweise durch „eine mimetische subversive Nutzung von Mainstream-Medien – Plakate, Zeitungsbeilagen, Werbetafeln etc. aus.“ 6 Auf die nGbK triff diese Definition besonders gut zu, weil es vielzählige Plakataktionen gab, bei denen gezielt ein Mainstream Medium gewählt wurde, um politische Forderungen mit einer möglichst breiten Öffentlichkeit zu teilen. 7 In ihrem Text „Die Aktivist*in als Produzent*in“ dehnt Elisa Bertuzzo dieses Verständnis von Aktivismus aus. Sie schreibt, dass Aktivist_innen andere soziale Räume produzieren, „vor allem weil und indem sie sich mit Anderen auf Prozesse einlassen, zu deren Beginn Ablehnung, Wunsch, Begehren stehen mögen und deren Ende von niemanden vorausgesagt werden kann. Sie setzen Gegenvorschläge und Counter-Narrative, neues Wissen und andere Praktiken in die Welt, zwischen Theorie und Praxis vermittelnd, fördern sie Handlungsvorschläge zutage.“ 8 Bertuzzo, AG-Mitglied von The Driving Factor, beschreibt hier partizipative künstlerisch-kuratorische Arbeitspraxen, die in der nGbK seit Jahren etabliert sind und insbesondere am Standort station urbaner kulturen/nGbK Hellersdorf und von der AG station urbaner kulturen umgesetzt werden.

Ein erweitertes Verständnis von Aktivismus wurde in der nGbK bereits mit der Ausstellung Art of Change 2005, die sich der Künstlerin und Aktivistin Loraine Leeson widmete, einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt und etabliert. Wie auch bei ACT UP zeichnet sich ihre Praxis durch einen kollaborativen Ansatz aus, wendet Strategien der Vermittlung, Partizipation und Institutionskritik an und greift dabei auf diverse (populäre) Medien wie Plakatserien, Videos, Websites und Datenbanken zurück, um die „Kluft zwischen Kunst und Gesellschaft zu überbrücken“, wie die Künstlerin im Katalog schreibt. 9 Einige der vorgestellten Projekte sind Kampagnen zur Rettung eines von der Schließung bedrohten Krankenhauses und einer Anwohner_inneninitiative in den Londoner Docklands. In ihrem Publikationsbeitrag schreibt Carmen Mörsch über Leeson, dass diese zu einer Generation aktivistischer Künstler_innen gehöre, die in der dominanten Kunstgeschichtsschreibung der 1970er und 80er Jahre „weitgehend entnannt worden sind.“ 10 Die nGbK-Ausstellung war angetreten, diese Lücke zu füllen.

Mit Bertuzzi könnte man Aktivismus in der nGbK zusammenfassend als andauernde Arbeit beschreiben, die nicht nur eine politische Haltung, sondern auch das Austauschen von kontroversen Meinungen und Perspektiven umfasst. Damit löst sich das Verständnis des Aktivismus von physischem, militantem Widerstand und zeigt sich auch im Recherchieren, Experimentieren und selbstorganisierten Eintreten für alternative und gerechtere Lebensformen: 11 Praxen, die in der nGbK seit Beginn verfolgt und umgesetzt werden.

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Anna-Lena Wenzel, 2024

  1. Vgl. „,Ich fand die nGbK und dieses Learning-by-Doing-Prinzip extrem wichtig. Ohne diesen Verein wäre ich nicht dort, wo ich heute bin‘, Interview mit Matthias Reichelt“, November 2021, https://ngbk.de/de/diskurs/mitgliederinterviews/matthias-reichelt-und-josefine-geier.
  2. Jule Reuter, „Kunst der Verantwortung“, in: Goodbye London. Radical Art and Politics in the Seventies, nGbK, Berlin 2010, o.S. 
  3. Siehe Einladung, https://archiv.ngbk.de/projekte/schlaglichter-schlagstoecke/.
  4. Frank Wagner, „Love Aids Riot Sex“, in: Love Aids Riot Sex, NGBK, Berlin 2014, S. 8.
  5. Gran Fury, „Read My Lips“, in: Love Aids Riot Sex, NGBK, Berlin 2014, S. 99f.
  6. Astrid Wege, „,Eines Tages werden die Wünsche die Wohnung verlassen und auf die Straße gehen‘. Zu interventionistischer und aktivistischer Kunst“, in: Stadt.Kunst, hrsg. v. Heinz Schütz, Regensburg 2001, S. 23-31, hier S. 24.
  7. Zum Beispiel die Straßenausstellung Voll aufs Auge – Ernst Volland stellt aus an Werbeflächen an der Gedächtniskirche zwischen Kurfürstendamm und Kantstraße 1981, bei der Zensurmaßnahmen, von denen der Künstler betroffen war, kritisiert wurden oder Dein Körper ist ein Schlachtraum 1991 von Barbara Kruger, mit explizit feministischen Botschaften, bei der 2000 Plakate und die Wandzeitung AVNET am Kurfürstendamm zum Einsatz kamen (beide organisiert von der Arbeitsgruppe RealismusStudio). Darüber hinaus unterstützte die nGbK Aktionen wie HOLY DAMN IT – 50.000 Plakate gegen das Treffen der G8-Staaten in Heiligendamm 2007 oder geGen-Welten: Widerstände gegen Gentechnologien von Oliver Ressler, bei der Warnschilder in Kunstinstitutionen aufgestellt wurden.
  8. Elisa Bertuzzo, „Die Aktivist_in als Produzent_in“, in: Lefebvre for Activists, hrsg. v. Kollektiv Quoditien, Hamburg 2020, S. 183-197, hier: S. 197.
  9. Loraine Leeson, „Exploding the Frame – den Rahmen sprengen“, in: Art for Change – Loraine Lesson, Arbeiten von 1975-2005, NGBK, Berlin 2005, S. 11.
  10. Carmen Mörsch, „Vorwort“, in: Art for Change – Loraine Lesson, Arbeiten von 1975-2005, NGBK, Berlin 2005, S. 6.
  11. Vgl. ebd. S. 196f.

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