Forschen
Eine der ersten Arbeitsgruppen der nGbK nannte sich Grundlagenforschung und war mit eben diesem Anspruch angetreten. Sie stellte die grundsätzliche Frage nach den Funktionen bildender Kunst in unserer Gesellschaft und brachte eine Ausstellung in der Technischen Universität Berlin und sechs Materialsammlungen auf den Weg, die „die der Ausstellung vorausgehenden Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen einerseits ergänzen, andererseits dokumentieren“ und zusätzlich „grundlegende Einsichten in den Themenbereich vermitteln [sollen]“, heißt es im ersten Handbuch. 1 Weitere Materialsammlungen und Leitstudien (wie Ästhetische Leitbilder von Jugendlichen, dargestellt am Beispiel der Wohnraumgestaltung und der Mode) aus dem Themenfeld Kunst und Erziehung/Kunsthochschuldidaktik folgten.
Der Anspruch, Wissen und Materialien zu erarbeiten und auf kuratorische und künstlerische Weise zu teilen und zu vermitteln, kann als maßgeblich für die Arbeit vieler Arbeitsgruppen gelten. Im Reader zum 50-jährigen Jubiläum wird dabei zwischen kollektiven, künstlerischen und aktivistischen Forschungs- und Recherchepraktiken unterschieden 2 und Beatrice von Bismarck ergänzt die Auflistung um den Begriff kuratorischer Forschung. 3
Immer wieder sind Projekte angetreten, auf einseitige Erzählungen hinzuweisen, Wissenslücken zu schließen und sich vermeintlich nebensächlichen oder lange ignorierten Themen zu widmen. Im Reader wird hervorgehoben, dass in der nGbK eine Auseinandersetzung mit Themen möglich war, die in staatlichen Museen und Universitäten unterbelichtet waren, was sich sicherlich um Methoden ergänzen ließe, die in diesen Institutionen als unwissenschaftlich galten. Dabei reichen die Forschungsmethoden von Archivarbeit über Fallstudien und Interviews bis zu interdisziplinären Erkundungen und field trips.
Positioniert sich die nGbK also einerseits gegen tradierte kunsthistorische und akademische Methoden und Narrationen, gab es gleichzeitig fließende Übergange zu universitären Kontexten. So basierte das Projekt Nur eine Woge (1977) auf einem Forschungsprojektantrag, den Assistent_innen und Studierende der TU Berlin initiierten, und dessen Arbeitsgruppe sich aus einem Seminar heraus bildete. 4 Ein Jahr später fand das Projekt Gröpelingen 1878-1978. Geschichte eines Stadtteils mit Studierenden der Bremer Hochschule für Gestaltung statt, das anschließend in der nGbK präsentiert wurde. Die Gruppe hatte sich zum Ziel gesetzt, „Ideen für eine malerisch-bildhafte Vermittlung der Entwicklungsgeschichte Gröpelingens in den letzten hundert Jahren zu erarbeiten“. Dafür wurden Befragungen mit Bewohner_innen des Stadtteils durchgeführt und „durch Quellenstudium im Archiv die wichtigsten Daten über die Geschichte Gröpelingens, speziell des Ortsteils Lindenhof, gesammelt.“ 5 Einen unmittelbaren akademischen Hintergrund hatte auch das Projekt Left Performance Histories (2018), das angetreten war, „die Performancegeschichte in den ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion archivarisch zu erforschen und diskursiv aufzuarbeiten.“ 6 Es ging aus der zwischen 2015 und 2018 erfolgten Forschung im akademischen Netzwerk Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs hervor, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Leibniz Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europas unterstützt wurde (die auch die Publikation mitfinanzierten).
Auch Licht Luft Scheiße (2017-2019) basierte auf einer Kooperation mit einer universitären Institution, dem Botanischen Museum Berlin. Die unterschiedlichen Hintergründe und Selbstverständnisse der Arbeitsgruppenmitglieder führten hier allerdings dazu, dass es Differenzen darüber gab, was unter Forschung zu verstehen sei. 7 Kein Wunder, wenn man bedenkt, wie vage die meisten Versuche bleiben, künstlerische Forschung oder künstlerisches Forschen zu definieren. Was die Arbeitsgruppen unter kuratorisch-forschenden Projekten verstehen, variiert dementsprechend je nach Konstellation. Die AG-Mitglieder von Licht Luft Scheiße teilen laut Florian Wüst „die Auffassung einer kuratorischen Praxis oder auch einer Praxis der künstlerischen Forschung, die Zusammenhänge über Genregrenzen hinaus eröffnet und bewusst subjektive Assoziationen in der Auswahl und Zusammenstellung des Materials zulässt.“ 8
Das Rekurrieren auf „subjektive Assoziationen“ ähnelt dem Definitionsversuch, den Kathrin Busch vornimmt, wenn sie künstlerische Denkweisen und ästhetische Theorieformen als Praxen beschreibt, die sich „keinen strengen Methoden unterwerfen, sich gegen disziplinäre Zuordnungen verwehren oder sich erlauben, Fakten und Fiktion zu mischen“. 9 Kathrin Busch war es auch, die in der nGbK mit der damaligen Geschäftsführerin Lilian Engelmann und Ingrid Wagner von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa ein neues Fördermodul für Künstlerische Forschung für die Freie Szene entwickelte, das 2017 in Form zweier Workshops erarbeitet und vorgestellt wurde. 10 Das Ergebnis war die Gründung der Gesellschaft für künstlerische Forschung im Jahr 2018 und die Einrichtung eines Stipendienprogramms 11 durch den Berliner Senat sowie die Ausstellung Radikale Passivität: Politiken des Fleisches, die Kathrin Busch und Ilse Lafer 2020 in der nGbK in Kooperation mit der Gesellschaft für künstlerische Forschung konzipierten.
Die Aktualität des Themas sowie der Wunsch, dem hohen Rechercheaufwand einiger Projekte gerechter zu werden, führten innerhalb der nGbK dazu, dass 2017 das mehrjährige Format B eingerichtet wurde. Es förderte Projekte über mindestens zwei, maximal drei Jahre mit einem maximalen Gesamtbudget von 79.999 Euro (zweijährig) oder 99.999 Euro (dreijährig). 12 Damit wollte „die nGbK Projektgruppen eine Möglichkeit geben, kuratorisch-forschende Projekte umzusetzen, kulturwissenschaftliche und gesellschaftspolitische Themen grundlegend aufzuarbeiten oder aktuelle Tendenzen aufzunehmen und inhaltlich vertiefend zu bearbeiten.“ 13 Mittlerweile wurden drei Projekte des Formats B abgeschlossen: Licht Luft Scheiße (2017-2019), … oder kann das weg? Fallstudien zur Nachwende (2019-2021) und Curating through Conflict with Care (2022-2024), ein weiteres wird seine Arbeit Ende 2024 präsentieren (Salt. Clay. Rock, 2023-2024).
Die Möglichkeit „Themen grundlegend aufzuarbeiten“ geht dabei mit der Überzeugung einher, dass das Wissen, das generiert wird, vorläufig und vielstimmig ist. So heißt es über das Projekt Left Performance Histories, dass es Vorschläge macht, sich annähert, erkundet und fragt. 14 Ähnlich vorsichtig formuliert es die Arbeitsgruppe … oder kann das weg? Fallstudien zur Nachwende: „Ohne jeden Anspruch, die Kunst der Nachwende in ihrer Gänze zu kartieren oder abzubilden, verweisen die Fallstudien auf eine noch andauernde Suche nach einer neuen, eigenen Sprache und nach neuen Bildern und Methoden. Sie können als Vorschläge angesehen werden, um zu künstlerischen Praxen der letzten Jahrzehnte anhand einer Reihe von thematisch miteinander verknüpften Arbeiten ins Gespräch zu kommen.“ 15
In diesem Sinne kann man sagen, dass in der nGbK nicht nur künstlerisch, kollektiv, aktivistisch und kuratorisch geforscht wird, sondern auch das Verständnis von Forschung und Wissen beständig hinterfragt, aktualisiert und erweitert wird.
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Anna-Lena Wenzel, 2024
- Arbeitsgruppe Grundlagenforschung der NGBK, 1. Materialien zur Ausstellung Funktionen Bildender Kunst in unserer Gesellschaft, Berlin, 1970, S. 2.↩
- https://archiv.ngbk.de/projekte/50-jahre-neue-gesellschaft-lernorte/↩
- Vgl. Beatrice von Bismarck, „Historisches Referenzmaterial zur kuratorischen Forschung“, in: Lernort … Forschen, Reader zu 50 Jahre neue Gesellschaft – Lernorte, nGbK, Berlin 2019, S. 40.↩
- Die nGbK diente hier vor allem der Sicherstellung der Finanzierung des Films, vgl. Nur eine Woge, NGBK, Berlin 1977, S. 2.↩
- „Vorwort“, in: Gröpelingen 1878-1978. Geschichte eines Stadtteils, NGBK, Berlin 1979, o.S.↩
- Adam Czirak, „Formen künstlerischer Kritik jenseits des Eisernen Vorhangs. Eine Einleitung“, in: ders.: Aktionskunst jenseits des Eisernen Vorhangs, Bielefeld 2019, S. 16 (Hervorhebung: ALW).↩
- Vgl. „,Licht Luft Scheiße war eine extrem komplexe und ambitionierte Unternehmung‘. Ein Gespräch mit Florian Wüst über das Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekt Licht Luft Scheiße. Perspektiven auf Ökologie und Moderne“, März 2021, https://archiv.ngbk.de/projekte/licht-luft-scheisse/; auch erschienen in vonhundert, Ausgabe 35/100 / „Geld Spezial“, Juni 2021, S. 55-57 und http://vonhundert.de/2021-06/918_anna-lena.php.↩
- Gespräch mit Florian Wüst.↩
- Kathrin Busch, „Ästhetische Amalgamierung. Zu Kunstformen der Theorie“, in: Lerchenfeld, Ausgabe 49 / „Künstlerische Forschung“, Juli 2019. S. 3-10, hier S. 4.↩
- https://archiv.ngbk.de/projekte/kunstlerische-forschung-ein-neues-fordermodul-fur-die-freie-szene/↩
- https://kuenstlerischeforschung.berlin/↩
- Für Projekte ab 2024 wurde die Fördersumme für zweijährige Formate auf 95.000 Euro erhöht; für 2025 wurde das Format durch ein Drittmittelformat ersetzt.↩
- Infoblatt „Informationen und Termine für Projektrealisierungen in der nGbK für das Jahr 2023“, veröffentlicht auf der nGbK-Website im Januar 2022.↩
- https://archiv.ngbk.de/projekte/left-performance-histories/↩
- https://nachwendefallstudien.de/about/↩
Projekte
2024
2024
Curating through Conflict with Care
2023
2021
… oder kann das weg? Fallstudien zur Nachwende
2020
Radikale Passivität: Politiken des Fleisches
2019-2021
2019
Licht Luft Scheiße. Perspektiven auf Ökologie und Moderne
2019
50 Jahre neue Gesellschaft - Lernorte
2019
2018
2017
Künstlerische Forschung – ein neues Fördermodul für die Freie Szene
2016
1987/88
1978
Gröpelingen 1878-1978. Geschichte eines Stadtteils
1977
1977
1970
Ästhetische Leitbilder von Jugendlichen, dargestellt am Beispiel der Wohnraumgestaltung und der Mode
1970