Unbehagen Pflegen

Die Freundlichkeit der Anderen in der deutschen Kunstpädagogik
von Felisha Carenage
2024

Die Wörter „Pflegen“ und „Sorgen“ können im Deutschen auch das „Verursachen“ meinen.  „Unbehagen pflegen“ kann im Sinne von  „für Unruhe sorgen“ verwendet werden: also im Sinne von Unruhe schaffen oder Unbehagen verursachen. „Unbehagen pflegen“ kann aber auch wörtlich verstanden werden als „Konflikte mit Sorgfalt angehen“. 

Unbehagen Pflegen ist also der Name eines Projektes, das ich zu Beginn des Schuljahres 22/23 initiiert habe. Das einjährige Ausbildungskonzept für Kunst- und Designstudierende an der Muthesius-Hochschule in Kiel, Deutschland, beinhaltet kollektives Lesen, kollektives Schreiben und den Besuch von Ausstellungen, Vorträgen und Installationen mit Blick auf Critical Race Theory und soziales Engagement. Ich nehme an, dass dieser Essay zeigen wird, wie ich in die Falle der Kunstvermittlung 1 getappt bin (eine anstrengende Art von Minderheitensteuer, die Menschen zahlen, wenn kritische Positionen nicht gut aufgenommen werden), und dass ich versuche, diesen Umstand zu navigieren, um „Gemeinschaft“ zu finden und aufzubauen.

Sommer 2022

Der erste Post-Pandemie-, Post-George-Floyd- und Post-Zoom-Sommer in Europa war gefüllt mit mehreren Kunstbiennalen, einer Triennale, der Art Basel und 100 Tagen documenta 2 , einer Ausstellung, die alle fünf Jahre die gesamte Stadt Kassel einnimmt und in den 1950er Jahren mit dem Ziel gegründet wurde, das Image Deutschlands in der Kunstwelt zu verbessern 3 .

Ich verbrachte ein Wochenende auf der documenta fifteen und besuchte mehrmals die 12. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst. Ich kannte die auf soziale Gerechtigkeit ausgerichtete Arbeit des Kurators und seiner Mitarbeiter aus einer Institution, die nach 2020 nie wieder eröffnet wurde: La Colonie 4 in Paris, wo ich seit meinem Studienabschluss 2017 gelebt hatte. Außerdem wurden zu dieser Zeit viele Kulturfördermittel für dekoloniale Arbeit in Institutionen vergeben, insbesondere für Künstler_innen mit sogenanntem „Migrationshintergrund“. Ich war begeistert, so viele junge, interessante Künstler_innen, Schriftsteller_innen und Kurator_innen in Räumen des Austauschs zu sehen, und saugte Informationen, Eindrücke und Strategien auf. 

In Kassel war ich auf der documenta fifteen im Alice Yard 5 untergebracht und tauschte mich mit anderen zwei- und dreisprachigen Künstler_innen und Kulturschaffenden aus, von denen einige während des „langen Sommers der Migration“ 6 als Teenager nach Deutschland gekommen waren. Als ich über meine Postgraduierten-Forschung zu Hafenstädten in Norddeutschland sprach, erwähnte ich, dass viele Menschen durch strukturelle und infrastrukturelle Diskriminierung unsichtbar gemacht wurden, sodass es nicht allgemein akzeptiert wird, dass Deutschland eine Postmigrationsgesellschaft ist 7 . Daraufhin rief ein Kollege den englischsprachigen Wikipedia-Artikel über das Land Deutschland auf, um Statistiken zu finden, die beweisen, dass nicht-weiße Menschen tatsächlich eine demokratisch unbedeutende Minderheit sind. 

Was kostet es, sich ein Gemälde anzuschauen? 

An diese Orte zu reisen und Kunstwerke und Dialoge aus erster Hand erleben zu können, ist ein integraler Bestandteil der Ausbildung, die ich im Rahmen meines Masters of Fine Art erhalten hatte und an der ich nun aktiv teilnahm. Seit 2017 habe ich immer wieder bescheidene Lehraufträge an der Muthesius-Hochschule. Die Freiheit, mit der ich meine Themen wählte, ist typisch für das deutsche Kunstausbildungssystem, das zugleich berühmtermaßen liberal und berüchtigt für das Ego seiner Professor_innen ist 8 9

Nicht verhandelbar für die Zulassung zu den meisten deutschen Studiengängen – insbesondere an Kunsthochschulen – ist jedoch die Sprachvoraussetzung. Nicht-europäische, nicht-deutsche Studierende müssen extrem fortgeschrittene Deutschkenntnisse haben, um immatrikuliert zu werden, um ein Visum zu erhalten. Die Erlaubnis, sich in Deutschland aufzuhalten, erkauft mit der Komplizenschaft, sein Leben und seine künstlerische Praxis in einer oft heftig fremdenfeindlichen Sprache zu führen 10 , bedeutete Zugang zu ganz Europa, zu Kunst in Museen und Messen und offenen Räumen. 

Das Wintersemester 22/23 begann gerade, als die 59. Biennale del Arte in Venedig zu Ende ging; diese Ausstellung ist praktisch die Olympiade der Ausstellungen, bei der die Werke der Künstler_innen in Pavillons gezeigt werden, die einzelnen Ländern zugewiesen sind, und nicht unbedingt von Galerien oder unabhängigen Vereinigungen. Nach Venedig nahm ich also zum ersten Mal meine Studierenden von Unbehagen Pflegen mit, und es war hier, wo einer von ihnen, der spät und betrunken angekommen war und sich seines Platzes in meiner Klasse, in der Schule, in Europa so sicher war, mit den Worten „Wir sind hier in Deutschland!“ 11 für sein Recht eintrat, eine Störung in meinem Seminar zu bleiben.

Die Freundlichkeit der Anderen

Die Pädagogik, die Unbehagen Pflegen notwendig macht, baut auf meiner eigenen dekolonialen Ausbildung an der Howard University und der University of the West Indies auf, die als Nervenzentren des Widerstands und der Zukunft gegründet wurden. Die prekäre Lage, in die mich mein schwacher Pass und meine persönlichen Umstände gebracht haben, bedeutet, dass ich fast vier Jahrzehnte lang nicht nur von Stipendien und Visa, sondern auch von der Freundlichkeit anderer in den Institutionen abhängig war. 

Aufgrund scheinbar radikaler Bildungssysteme wie denen an den HBCUs 12 und in der englischsprachigen Karibik war ich dazu übergegangen, einige Institutionen zwar nicht als sichere Räume, aber als sicherere Räume (safer spaces) zu betrachten, in denen Zweifel und Ängste, Unreife und Unerfahrenheit angesprochen werden konnten. Das, was diese Systeme radikal machte, war ihre Praxis, ethisch zu sein 13 ; ihre Pädagogik sollte die Schwächen und Sorgen nicht nur der Lehrenden, sondern auch der Studierenden berücksichtigen. 

Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen denjenigen Pädagog_innen, Studierenden und praktizierenden Künstler_innen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, und denen, die meinen, von Veränderungen des Status Quo negativ betroffen zu sein. In die Professionalisierung von Hochschulabsolvent_innen zu investieren bedeutet, Studierende auf Karrieren in einer Kunstwelt vorzubereiten, die von ihnen verlangt, für sich selbst einzutreten, und die ihnen den Komfort der Unpolitizität verwehrt. Ich schließe privilegierte Studierende mit finanziellen, sprachlichen und passbezogenen Privilegien davon nicht aus, und es ist auch die Aufgabe der Institution, dies zu tun. Dies, so habe ich in Deutschland gelernt, ist eine große Herausforderung für Pädagog_innen und Verwaltungsangestellte, deren Leben von ihrem freien Gebrauch des Wortes N**** völlig unberührt bleibt. 

Kunstschaffende in einem Nationalstaat, der so zersplittert und so schuldig ist, werden von besonders machtvollen Zerbrechlichkeiten geplagt. Wie können wir freundlich zueinander und zu uns selbst sein?

  1. https://12.berlinbiennale.de/messyglossary/term/art-mediation/ (Alle Links abgerufen am 4. April 2024).
  2. https://www.documenta.de/en/about#16_documenta_ggmbh
  3. Die Nazis haben viel dafür getan, um viele Menschen wissen zu lassen, dass die Arbeit dieser Menschen nicht als Kunst angesehen wird, und die documenta ist ostentativ Schadensbegrenzung dafür.
  4. https://www.lacolonie.paris
  5. https://documenta-fifteen.de/en/lumbung-members-artists/alice-yard/
  6. https://www.rosalux.de/publikation/id/8653/antimigrantische-politik-und-der-sommer-der-migration
  7. https://www.migrationsbegriffe.de/postmigrantisch
  8. Anmerkung: Ich bin kein Professorin, sondern eine bescheidene Lehrbeauftragte, die kein existenzsicherndes Gehalt erhält.
  9. Ich werde nicht zu viel über die Exklusivität in Bezug auf Finanzen und Ausbildung an der Kunsthochschule reden – an den meisten deutschen Hochschulen gibt es vernachlässigbare Studiengebühren und viele andere Faktoren wie künstlerisches Potenzial und Studiendauer sind höchst subjektiv (siehe oben, dem Ego von Professor_innen verpflichtet).
  10. https://archiv.hkw.de/de/app/mediathek/project/187507-schlechte-woerter
  11. ‘Wir sind hier in Deutschland!’ Dieser Satz wird in der Regel verwendet, um für die Rede- und Bewegungsfreiheit von Personen einzutreten, die – meiner Erfahrung nach – meistens etwas Fremdenfeindliches sagen. Vergleichen Sie mit „Das ist Amerika!
  12. Historisch schwarze Hochschule oder Universität, z. B. Howard University, Morehouse College.
  13. Appiah, Kwame Anthony, “Can I utter a racial slur in my classroom?”, The New York Times, 09.09.2022, (online) https://www.nytimes.com/2022/04/05/magazine/racial-slur-classroom-ethics.html.

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