Eine polyphone Hypothese
von Azadbek Bekchanov
2023
Welche Geschichten werden erzählt? Von wem? Für wen? Hören wir den richtigen zu? Das sind die Fragen, die mir immer wieder durch den Kopf gehen. Es geht darum, Infrastrukturen im weitesten Sinne zu schaffen, die Geschichten beherbergen können, die immer wieder erzählt werden müssen. Das versuche ich seit Jahren zu tun. Ich möchte über die Anliegen sprechen, die ich habe. Ich habe das Gefühl, dass es nach drei Jahren, in denen ich Teil eines von Künstler_innen geführten Raums mit Menschen bin, von denen mir einige nahe stehen und einige weniger, endlich an der Zeit ist, es zu tun. Es ist nicht einmal so viel, aber ich habe das Gefühl, dass ich Dinge zu sagen habe, die hoffentlich ein wenig interessant sind oder Sinn ergeben. Über diese Themen zu sprechen, ist dennoch heikel. Es beinhaltet persönliche Geschichten, die man zu verstehen versucht. Es birgt das Risiko, seine persönliche Herkunft und Konflikte zu sehr preiszugeben. Die weiße Kunstwelt ist so begeistert von unseren persönlichen Geschichten, davon, wie schwer es ist, aufzuwachsen, wenn man aus einem diasporischen Hintergrund stammt, und von den daraus resultierenden Konflikten. Sie brauchen diese Geschichten, weil sie nicht wissen, wie sie mit ihrer Schuld umgehen sollen. Unsere Geschichten werden zu austauschbarem Material, das extrahiert werden kann, damit sie mit ihrer Illusion der weißen Unschuld leben können. Sie ernähren sich von unseren Konflikten, um ihre eigene Erzählung aufzuzwingen und zu entscheiden, wer gehört werden soll und wer nicht. Wie gehen wir damit um? Wie schaffen wir Infrastrukturen, die uns vor einem weißen Blick schützen können, der früher oder später versuchen wird, sie gegen uns zu verwenden? Wenn wir Sprache als Infrastruktur betrachten, können wir sie nutzen, um Bilder zu schaffen und sie so zu formen, dass Geschichten erzählt werden, die nicht für jeden leicht zugänglich sind. Geschichten von uns selbst, für uns selbst zu erzählen, ist eine wichtige Methode, die wir wieder in die Praxis umsetzen müssen. Es geht darum, mit wem wir sprechen, wem wir unsere Geschichten erzählen.
Ich habe das Gefühl, dass die meisten kuratorischen Projekte, die ich gemacht habe, darum gingen, Fragen auf kollektive Weise neu zu denken: Wie tragen wir Erinnerungen aus der Vergangenheit in uns? Was können uns diese Erinnerungen über unsere Realität sagen? Mich interessiert, wie wir Geschichten neu erzählen können, die zum Verstummen gebracht wurden, denn wenn sie immer wieder wiederholt werden, beginnen sie sich anders anzuhören. So fühle ich mich in meiner kuratorischen Arbeit; es ist dieselbe Geschichte, die ich immer wieder erzähle - von familiären Fragmenten, von Erinnerungen, die ich von meinen Eltern geerbt habe. Es geht um eine Fantasie von etwas, das uns verlassen hat. Wegen ihrer polyphonen Natur kann kuratorische Praxis diese Fragen in sich tragen. Viele Stimmen bewohnen uns aus unserer Vergangenheit, aus dem, was wir geerbt haben, und es ist an der Zeit, dass wir anfangen, sie wieder erklingen zu lassen.